Kiel. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident fordert, eine Regierungsbeteiligung der AfD im Osten „unter allen Umständen“ zu verhindern.
Ein Verbot der AfD? „Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, unsere Demokratie zu schützen.“ Sorgen um unser Land? „Die Feinde der Demokratie sind ...deutlich stärker geworden, als ich es mir in meinem langen politischen Leben mal hätte vorstellen können.“ Eine Reform der Schuldenbremse? „Wir sollten das Thema nicht lange vor uns herschieben.“ Schleswig-Holstein als Nabel der Welt? „Ist zwar nicht so, ich behaupte das trotzdem.“ Das Abendblatt traf Schleswig-Holsteins Ministerpäsident Daniel Günther (CDU) zum großen Sommerinterview über die wichtigsten Themen der Zeit.
Herr Günther, wie geht es Deutschland?
Wir haben Glück, hier zu leben. Das Land hat gute Zukunftsaussichten. Deutschland steht zugleich auch vor großen Herausforderungen. Aber wenn wir die wieder mit mehr Tatkraft und Optimismus angehen, wird sich auch die Stimmung im Land bessern. Die ist bedauerlicherweise schlechter als die Lage.
Daniel Günther: Demokratie gegen deren Feinde verteidigen
Die Bundesregierung hat kürzlich ihren „Gleichwertigkeitsbericht“ vorgestellt. Danach geht es in 27 der 38 analysierten Kategorien - darunter Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt - in den schwächeren Regionen des Landes aufwärts. Die Lebensbedingungen gleichen sich laut Analyse der Daten an. Gleichzeitig sehen die Menschen im Befragungsteil der Untersuchung die Lage viel kritischer. Gehen Wirklichkeit und gefühlte Wirklichkeit so weit auseinander?
Wir sehen Herausforderungen häufig als Problem und weniger als Chance, das wirkt sich auch auf die gefühlte Wirklichkeit aus. Dabei gab es in der Tat in den vergangenen Jahren in strukturell schwächeren Regionen Aufholprozesse. In Schleswig-Holstein nutzen wir jetzt die Chance, durch den Ausbau der erneuerbaren Energien neues Wirtschaftswachstum zu generieren. Was generell dringend notwendig ist, denn das Wirtschaftswachstum in Deutschland war zuletzt ja wirklich einfach schlecht.
Seit 1945 ging es jeder neuen Generation immer einen Tick besser. Rechnen Sie damit, dass es so weitergeht?
Die Chance haben wir zumindest. Nur vermissen viele junge Menschen eine spürbare Perspektive. Das Gefühl, dass es der nächsten Generation besser geht als der jetzigen, war schon mal ausgeprägter. Gewissheiten sind verloren gegangen: die Gewissheit, dass es keinen Krieg in Europa gibt; die Gewissheit, dass der deutsche Weg erfolgreich ist. Dieses Versprechen und die Hoffnung darauf, dass es der nächsten Generation besser geht, müssen wir stärker hinterlegen, indem wir die Probleme lösen.
Und wie?
Wir brauchen Klimaschutz, der Wohlstand und Arbeit schafft. Wir müssen wieder schneller werden, zum Beispiel bei Planungs- und Genehmigungsvorhaben, Deutschland ist zu langsam. Wir müssen Bürokratie abbauen und den Fach- und Arbeitskräftemangel viel aktiver angehen. Wir müssen Leistung wieder als einen wichtigen, positiven Wert anerkennen. Daran mangelt es im Moment in der Bundespolitik am meisten.
Regionale Unterschiede und Eigenarten sind nichts schlechtes
Wir leben im 35. Jahr nach dem Mauerfall. Ost und West driften immer weiter auseinander statt zusammenzuwachsen. Ist diese Entwicklung angesichts der dramatischen Veränderungen im Osten und der unterschiedlichen Sozialisation nachvollziehbar?
Unsere Erwartung, wonach sich Ost und West immer stärker angleichen müssen, war überzogen. Unterschiedlichkeit, Eigenarten sind nichts Negatives. Anhand ökonomischer Kriterien die Frage der Angleichung zu diskutieren, ist nachvollziehbar. Aber wir schauen ja auch, ob sich die Einstellungen der Menschen angeglichen haben. Das halte ich für falsch. Auch im westlichen Teil unseres Landes ist es nicht so, dass wir überall gleiche Mentalitäten haben, wenn man beispielsweise an Schleswig-Holstein und Bayern denkt. Die regionalen Unterschiede und auch Eigenarten sollten wir als Stärke definieren. In ökonomischer Hinsicht sollte die Angleichung der Lebensverhältnisse natürlich ein Ziel bleiben, auch, wenn es sicher nie ein komplett gleiches Niveau in Nord, Süd, Ost und West geben wird. Aber ich setze bei der wirtschaftlichen Entwicklung auf einen gesunden Wettbewerb zwischen den Ländern. Und gerade was die Umstellung der Energieversorgung auf Erneuerbare angeht, werden die Karten neu gemischt. Das bringt für Regionen Vorteile, die vielleicht lange nicht so im Fokus standen.
In Schleswig-Holstein leben laut dem „Glücksatlas“ die glücklichsten Menschen Deutschlands. Hört man Ihren Ministerpräsidenten-Kollegen im Osten zu, ist dort alles eher trist und ungerecht. Tragen Ihre Kollegen eine Mitschuld an der schlechten Stimmung in den östlichen Bundesländern?
Das ist kein Ost-West-Problem. Momentan weckt die Politik auf Bundesebene nicht gerade Zukunftshoffnungen. Hier in Schleswig-Holstein versuche ich deshalb umso mehr, die Menschen zu begeistern, stolz auf ihre Heimat zu sein, gern hier zu leben, optimistisch zu sein. Genau das muss Politik leisten: Zuversicht geben. Wir sind hier in Schleswig-Holstein nicht der Nabel der Welt, ich behaupte das trotzdem. Ein Mentalitätswandel kann am Ende zu tatsächlichen Erfolgen folgen. In einem Unternehmen käme man nicht auf die Idee zu sagen, meine Güte, was hatten wir früher für tolle Zeiten, in Zukunft sieht alles düster aus. So motiviert man Menschen nicht. Das müssen wir in der Politik insgesamt stärker beherzigen.
Verbreiten Politik und Meiden zu viel schlechte Stimmung?
Sie plädieren für eine Politik, die mehr Zuversicht, mehr Optimismus und eine gute Stimmung verbreitet?
Eine positive Lebenseinstellung ist der Schlüssel zum Erfolg. Mit etwas mehr Gelassenheit akzeptiert man Dinge, die man nicht ändern kann. Ich glaube, dass das einer der Gründe dafür ist, warum in Schleswig-Holstein die glücklichsten Menschen leben. Die glücklichsten Europäerinnen und Europäer leben in Skandinavien. Diese Nähe strahlt aus.
Die große Mehrheit der Deutschen, mehr als zwei Drittel, macht sich laut ARD-Deutschlandtrend Sorgen um die Demokratie - zu Recht?
Wir haben zurzeit zumindest allen Grund, sehr deutlich zu machen, dass Demokratie nichts ist, was einfach da ist. Demokratie funktioniert nur, wenn die deutliche Mehrheit der Gesellschaft sie aus Überzeugung mitträgt. Es ist nicht nur die Aufgabe von Politik, sondern die Aufgabe von allen Bürgerinnen und Bürgern, die Demokratie gegen deren Feinde zu verteidigen. Diese Feinde sind nicht nur in den Umfragen, sondern zum Teil auch in den Wahlen deutlich stärker geworden, als ich es mir in meinem langen politischen Leben mal hätte vorstellen können.
Warum wählen die Menschen in Scharen AfD?
Blickte man nach der Europawahl auf eine Deutschlandkarte, sah man ein zweigeteiltes Land: In den westlichen Ländern dominierte mit schwarz die Farbe Ihrer Partei, in den östlichen das Blau der AfD. Die Menschen dort wählten in Scharen die AfD, obwohl sie wissen, dass die Partei zumindest in Teilen rechtsextremistisch ist. Wie erklären Sie sich das?
Es ist bitter, dass es so viele Menschen gibt, die sich davon nicht abschrecken lassen. Leider auch in Westdeutschland. Ich glaube, dass es in Ostdeutschland eine noch größere Distanz zum Berliner Politikbetrieb gibt, und, dass sich viele Menschen davon nicht repräsentiert fühlen. Es gibt wenig Ostdeutsche, die in der Bundespolitik eine Rolle spielen. Viele Menschen in Ostdeutschland sehen sich generell in Führungseliten nicht widergespiegelt, zu recht, denn das ist ja leider auch so. Dazu ist die Sorge vor einem wirtschaftlichen Abstieg oder einem Statusverlust weiter verbreitet, die häufig unbegründet ist, aber sicher auch mit den Erfahrungen der Wende zusammenhängt. Und es fehlt teilweise an langfristigen Bindungen an Institutionen wie die Kirche oder Parteien – und dadurch auch ein gewisses gesellschaftliches und politisches Vertrauen. Aber ich will das Wahlverhalten damit nicht entschuldigen. Es gibt keine Rechtfertigung, deshalb AfD zu wählen. Gerade bei der Europawahl hat die AfD keinen Hehl daraus gemacht, dass sie Europa und die internationale Zusammenarbeit ablehnt. Deren Spitzenkandidaten haben deutlich gesagt, dass sie mit Deutschland deutlich weniger am Hut haben als mit Autokratien. Dass trotzdem eine so hohe Anzahl von Wählerinnen und Wählern bereit ist, einer solchen Partei die Stimme zu geben, finde ich wirklich sehr bitter.
Sie haben die AfD im Winter in einem Interview „gefährlich“ genannt und eine „völlig andere Gangart“ gefordert. Was meinen Sie damit konkret – das Verbot der AfD?
Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, unsere Demokratie zu schützen. Inzwischen haben wir die Gangart schon verändert. Die AfD zu ignorieren und nicht über sie zu reden, war immer Teil auch meiner Strategie. Das reicht aber nicht mehr. Eine Partei, die mancherorts droht, mehrheitsfähig oder zumindest mit Abstand stärkste Kraft zu werden, muss man auch politisch stellen. Das ist in den vergangenen Monaten gesamtgesellschaftlich geschehen. Menschen sind auf die Straße gegangen, Verbände oder Arbeitgeber haben sich klar positioniert. Das hat etwas bewirkt. Die AfD war in Umfragen schon deutlich stärker als heute. Die sinkende Zustimmung kommt durch diese öffentliche Debatte und die klare Auseinandersetzung der demokratischen Parteien mit den kruden Thesen der AfD. Wir müssen den Menschen, die mit ihr sympathisieren und die wir noch erreichen können, deutlich machen, wofür die AfD steht.
Wie halten Sie es mit einem Verbot der AfD, Herr Günther?
Man muss die AfD stellen. Muss man sie auch verbieten oder an die Parteienfinanzierung herangehen?
Solche Fragen müssen extrem sorgsam vorbereitet werden. Wenn solche scharfen Schwerter genutzt werden, müssen sie erfolgreich sein. Wenn ein Verbot vor Gericht scheitern würde, würde dies das Gegenteil bewirken. Ich habe völliges Verständnis dafür, dass keine Schnellschüsse gemacht werden.
Aber die Prüfung muss intensiv vorangetrieben werden?
Ich habe Sympathie für ein Verbotsverfahren, wenn die Voraussetzungen dafür gesichert vorliegen.
Wird die CDU mit Sahra Wagenknechts BSW zusammenarbeiten?
Sie sprachen im Winter von „Parallelen zu den Entwicklungen in Deutschland vor 100 Jahren“. Wo sehen Sie Parallelen und wo Unterschiede?
Die Parallele sehe ich darin, dass die AfD sich politisch ohne Zweifel radikalisiert hat. Die AfD war nicht immer so eindeutig rechtsextrem, wie es heute große Teile der Partei sind. Wie damals haben die Menschen diesen schleichenden Prozess zunächst nur achselzuckend zur Kenntnis genommen. Aber das hat sich nachhaltig verändert, wie man an den Protesten aus der Mitte der Gesellschaft sieht. Das ist ein entscheidender Unterschied. Von daher habe ich die Hoffnung, dass wir den Schuss diesmal rechtzeitig gehört haben und gemeinsam als Demokratinnen und Demokraten verhindern, dass unser Land sich in eine falsche Richtung entwickelt. Unser oberstes Ziel ist es, die AfD aus Regierungsverantwortung fernhalten, gegebenenfalls auch in ungewöhnlichen Konstellationen.
„Ungewöhnliche Konstellationen“ – wie ein Bündnis von CDU mit dem BSW von Sahra Wagenknecht oder der Linken von Bodo Ramelow in Thüringen?
Darüber spekuliere ich nicht. Meine Parteifreundinnen und -freunde, bei denen jetzt Wahlen anstehen, können das sehr gut selbst einschätzen. Aber klar ist für uns alle in der Union: Eine Regierungsbeteiligung der AfD muss unter allen Umständen verhindert werden. Das hat oberste Priorität.
Schleswig-Holstein muss eine Milliarde Euro einsparen - nur wie?
Schauen wir auf Ihr Land. Droht auch in Schleswig-Holstein ein Stimmungseinbruch angesichts der dramatischen Haushaltslage und der Notwendigkeit, zu sparen?
Die Haushaltslage macht das Regieren herausfordernder. Ich erlebe aber viel Verständnis im Land für die Tatsache, dass Kürzungen notwendig sind. Wir haben im aktuellen Haushaltsjahr 100 Millionen Euro eingespart und das wird nicht das Ende der Fahnenstange sein. Diese Kürzungen haben wir den Betroffenen frühzeitig und gut kommuniziert. Wenn wir dem Land eine positive Zukunft geben wollen, kommen wir an Einsparungen nicht vorbei.
100 Millionen haben Sie eingespart. Aber den Haushalt für 2024 konnten sie nur aufstellen, indem sie trotz Bedenken des Rechnungshofes erneut Notkredite aufgenommen und die Rückstellungen gekappt haben. Eine Milliarde Euro müssen Sie in den nächsten Jahren sparen oder herzaubern. Wie soll das gehen?
In den nächsten fünf Jahren müssen wir Schritt für Schritt auf diese eine Milliarde kommen. Das geht aber nicht von heute auf morgen, insbesondere nicht nach so ausgeprägten Notlagen. Daher werden wir im Rahmen der Haushaltskonsolidierung auch auf Rücklagen zurückgreifen.
Reform der Schuldenbremse? Nicht lange vor uns herschieben
Es sei denn, die Schuldenbremse wird doch noch reformiert.
Die Schuldenbremse ist in der Sache völlig richtig. Sie schützt uns davor, keine Prioritäten zu setzen. Aber sie hat Unwuchten. Das haben mittlerweile auch alle Wirtschaftsforschungsinstitut festgestellt. Gerade in den Folgejahren nach einer Notlage, wie etwa nach der Ostsee-Sturmflut, kann nicht sofort wieder in eine haushälterische Normallage geschaltet werden.
Aber die Reform kommt nicht mehr in dieser Legislaturperiode des Bundestages, sondern erst in der nächsten?
Wir brauchen für solche Veränderungen sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit. Wir sollten das Thema nicht lange vor uns herschieben. Die Weichenstellungen sind jetzt notwendig. Ich hoffe, dass das frühzeitig passiert.
Das wird Ihnen beim nächsten Haushalt nicht helfen. Schließen Sie einen erneuten Notkredit für 2025 aus?
Nein, den schließe ich nicht aus. Möglicherweise benötigen wir für die Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine oder für die Folgen der Ostsee-Sturmflut neue Notkredite für 2025. Das haben wir immer klar kommuniziert.
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Stichwort Sturmflut: Hat sich der Bund in der Zwischenzeit bewegt und beteiligt sich doch an den Folgekosten der Jahrhundertsturmflut?
Der Bund hat zumindest viele Gebiete besucht, in denen Schäden nach Unwettern entstanden sind. Nicht in Schleswig-Holstein, aber in allen anderen Ländern. Das Bewusstsein ist ein wenig gewachsen, dass es doch eine nationale Aufgabe ist, sich zu kümmern. So gibt es für unser Land zumindest aus Küstenschutzmitteln des Bundes 50 Millionen Euro für die Wiederherstellung der Deiche. Aber das ist nicht das, was uns der Bundeskanzler zugesagt hat. Die uns versprochene „faire Kostenteilung“ wären - wie bei vergleichbaren Schadensereignissen - 50 Prozent. Bei Schäden von etwa 250 Millionen Euro allein an der öffentlichen Infrastruktur kann man leicht ausrechnen, was fehlt. Ein bisschen was ist aber passiert.
Haben Sie Hoffnung, dass noch ein bisschen mehr passiert?
Ich bin ein optimistischer Mensch, aber bei dieser Bundesregierung kommt auch mein Optimismus an seine Grenzen.