Itzehoe. Der Angeklagten wird Beihilfe zu mehr als 11.000 Fällen des Mordes vorgeworfen. Das Verfahren findet vor der Jugendkammer statt.

Eine ehemalige Sekretärin im deutschen Konzentrationslager Stutthof bei Danzig muss sich vor Gericht verantworten. Das Landgericht Itzehoe habe am Freitag das Hauptverfahren gegen die 96-Jährige eröffnet, teilte eine Sprecherin des Gerichts mit. Der Angeklagten werde Beihilfe zu mehr als 11.000 Fällen des Mordes vorgeworfen.

NS-Prozess findet vor Jugendkammer statt

Am 30. September um 10 Uhr beginnt der Prozess gegen die Seniorin, die als junge Frau im Zweiten Weltkrieg Sekretärin des Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig war. Das hat die Sprecherin des Landgerichts Itzehoe, Frederike Milhoffer, am Freitag bekannt gegeben.

„Die Anklage vom 26. Januar 2021 wirft der damals Heranwachsenden Beihilfe zu mehr als 11.000 Fällen des Mordes und versuchten Mordes vor. Der Angeklagten wird zur Last gelegt, in ihrer Funktion als Stenotypistin und Schreibkraft in der Lagerkommandatur des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof zwischen Juni 1943 und April 1945 den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von dort Inhaftierten Hilfe geleistet zu haben“, heißt es in einer Mitteilung des Gerichts. Konkret geht es um 11.387 Fälle. Verhandelt wird vor der 3. Großen Jugendkammer, weil Irmgard F. zur Zeit der ihr vorgeworfenen Straftaten nach heutigem Recht Heranwachsende war.

Urteil gegen früheren SS-Mann Gröning richtungsweisend

Selbst gemordet hat Irmgard F. in keinem der Fälle. Dass sie sich nun mehr als 76 Jahre nach Kriegsende dennoch vor Gericht verantworten muss, während viele vor ihr unbehelligt blieben, hängt mit einer geänderten Rechtsauffassung der Justiz zusammen.

Seitdem der Bundesgerichtshof 2016 ein Urteil gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning bestätigte, der im Konzentrationslager Auschwitz als „Buchhalter“ gearbeitet hatte, brachten die Staatsanwaltschaften einige Personen wegen Beihilfe vor Gericht, die im KZ Dienst getan hatten, jedoch nicht direkt an den Ermordungen beteiligt waren. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass unterstützende Tätigkeiten wie Wach- oder eben auch Schreibdienste im juristischen Sinn als Beihilfe zum Mord zu werten sind.

Dieser geänderten Praxis ist es jetzt auch zu verdanken, dass es zur Anklage gegen Irmgard F. kam. Reporter des NDR hatten sie Ende 2019 in dem Altenheim, in dem sie lebt, besucht und mit ihr über die Zeit während des Zweiten Weltkriegs gesprochen. Dabei soll die heute 96-Jährige bestätigt haben, damals als Stenotypistin und Sekretärin dem Lagerkommandanten unterstellt gewesen zu sein. Von den Morden im Lager will sie jedoch erst nach Kriegsende erfahren haben. Die Seniorin hat auch im Ermittlungsverfahren Angaben gemacht. Welcher Art, ist nicht bekannt.

Angeklagte war schon als Zeugin befragt worden

Nach einem Bericht der „Tagesschau“ aus dem vergangenen Jahr war Irmgard F. bereits mehrfach als Zeugin befragt worden. 1954 habe sie ausgesagt, dass der gesamte Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt über ihren Schreibtisch gelaufen sei. Kommandant Paul Werner Hoppe habe ihr täglich Schreiben diktiert und Funksprüche verfügt.

Um zu prüfen, was genau ihre Tätigkeit in Stutthof war, hatte die Staatsanwaltschaft Überlebende des Lagers unter anderem in den USA und Israel ausfindig gemacht. Über ein Rechtshilfeersuchen wurden die Zeugen des Terrors von Vertretern der dortigen Ermittlungsbehörden vernommen. Den Ermittlungsbehörden lagen auch das extra angefertigte Gutachten eines Historikers sowie die Akten früherer Prozesse vor, die sich gegen die Lagerverantwortlichen gerichtet hatten. Sie flossen in die Anklageschrift ein, die mehr als 100 Seiten hat.

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Schätzungsweise 65.000 Menschen wurden in Stutthof getötet

Im Konzentrationslager Stutthof hatten die Nazis unter anderem polnische Bürger, sowjetische Kriegsgefangene und Juden eingesperrt, gequält und getötet. So sollen die Insassen seit Sommer 1944 auf Befehl der SS in Berlin systematisch in einer Genickschussanlage und einer Gaskammer hingerichtet worden sein. Von mehr als 100.000 Insassen, die zuvor nach Stutthof gebracht wurden, starben schätzungsweise 65.000 Menschen.

Viele der dafür verantwortlichen Verbrecher wurden unmittelbar nach Kriegsende hingerichtet, darunter Lagerkommandant Max Pauly, zehn Offiziere und Unteroffiziere sowie sieben Aufseherinnen. Paul Werner Hoppe, der im September 1942 Pauly – der wechselte als Kommandant in das KZ Neuengamme – als Chef des KZ Stutthof ablöste, kam glimpflich davon. Er wurde 1957 in zweiter Instanz wegen seiner Tätigkeit in Stutthof zu neun Jahren Haft verurteilt. Für ihn hatte Irmgard F. von ihrem 18. bis 20. Lebensjahr gearbeitet.

Hatte die Angeklagte Kenntnis von den Gräueltaten?

Wolf Molkentin aus der Kanzlei Gubitz und Partner mit Sitz in Kiel ist der Pflichtverteidiger der 96-Jährigen. Er befürwortet die späte Auseinandersetzung der Justiz mit dem Fall, wie er dem Abendblatt im Mai sagte: „Dass dieser Fall jetzt noch einmal aufgearbeitet wird, finde ich grundsätzlich sinnvoll. Jede Aufarbeitung der Strukturen und Taten in den Lagern stellt ein Stück Gerechtigkeit dar.“

In dem Verfahren wird es jetzt vor allem darum gehen, ob die junge Irmgard F. Kenntnis von den Gräueltaten hatte und durch ihre Tätigkeit zum Funktionieren des Lagers beitrug. Was sich dort ereignet hat, wolle sie nicht in Abrede stellen, sagt ihr Anwalt: „Es besteht mit meiner Mandantin Einigkeit, dass die dort begangenen Haupttaten nicht angezweifelt werden.“ Er weist aber auch auf die Unschuldsvermutung hin, die auch für seine Mandantin gelte.

Es war fraglich, ob Irmgard F. verhandlungsfähig ist 

Molkentin hat sich ausführlich mit dem Gutachten eines Historikers befasst, das Hauptbestandteil der Anklage ist. „In dem der Anklage beigefügten Historikergutachten findet sich wenig Konkretes zur persönlichen Verantwortung meiner Mandantin“, sagt der Jurist.

Zuletzt war fraglich, ob Irmgard F. gesundheitlich fit genug ist, um dem Verfahren gegen sie folgen zu können. Ein Gutachten des amtsärztlichen Dienst des Kreises Pinneberg hatte auf eine Herzkrankheit der Frau hingewiesen und die Verhandlungsfähigkeit der Frau, die in einem Seniorenheim in Quickborn-Heide lebt, in Zweifel gezogen.

Ein abschließendes Urteil dazu fehlte jedoch in der Stellungnahme des Amtsarztes. Der Kammervorsitzende Dominik Groß beauftragte daraufhin einen auf Herzkrankheiten spezialisierten Kardiologen mit einer weitergehenden Untersuchung der Angeklagten. Anfang Juni kam der zu der Einschätzung: Ja, sie ist verhandlungsfähig.

Kammer hat Termine bis zum Sommer 2022 anberaumt 

Wo der Prozess stattfindet, gibt das Landgericht später bekannt. Benötigt werden Räume, die groß genug sind für ein Mammutverfahren dieser Art. Dass es jetzt starten kann, ist der am Freitag erfolgten Zulassung der Anklage durch das Landgericht zu verdanken. „Die Kammer hat einzelne juristische Fragen anders bewertet als die Staatsanwaltschaft, an der Sache selbst ändert das nichts“, so Gerichtssprecherin Milhoffer.

Aktuell haben sich 17 Nebenkläger dem Verfahren angeschlossen. Bis vor Kurzem waren es noch 18, einer der  Nebenkläger soll verstorben sein. „Es könnten auch noch weitere dazukommen“, sagt Milhoffer. Als im Oktober 2019 vor dem Landgericht Hamburg der Prozess gegen Bruno D., einen Wachmann des KZ Stutthof, begann, hatten sich 40 Nebenkläger dem Verfahren angeschlossen.