Hamburg. Auch in der vierten Welle liegt die Inzidenz im Norden deutlich niedriger – worin liegt das Geheimnis des Erfolgs?
Deutschland hat ein Nord-Süd-Gefälle – und was für eins: In der mittlerweile vierten Corona-Welle bleibt Schleswig-Holstein das Vorzeigelandland der Bundesrepublik. Die Inzidenz liegt derzeit bei 77,0 Platz 1 vor Bremen. Die Impfquote ist mit 71,8 Prozent die viertbeste im Land – nach Bremen, dem Saarland und Hamburg.
Zugleich hat Schleswig-Holstein deutlich weniger Corona-Tote zu beklagen – im Norden sind es 60 gerechnet auf 100.000 Einwohner, in Hamburg 100 und bundesweit sogar 115. Die Zahlen aus Bayern zum Vergleich: Dort liegt die Inzidenz bei 348,0, die Impfquote unter dem Bundesschnitt und die Zahl der Toten mit 118 auf 100.000 Einwohner darüber. Vielleicht sollten Talkshow-Macher mal Daniel Günther statt Markus Söder einladen.
Was macht der Norden besser? Für Wolfgang Kubicki ist die Sache klar
Was macht der Norden besser? Für Wolfgang Kubicki, einen der Väter der Jamaika-Koalition in Kiel, ist die Sache klar: „In Schleswig-Holstein haben wir immer darauf geachtet, dass notwendige Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise sehr schnell und möglichst grundgesetzschonend umgesetzt werden“, sagte der FDP-Politiker dem Abendblatt. „Dies hat Vertrauen geschaffen, das in anderen Regionen des Landes offensichtlich fehlt.“
Prof. Ansgar W. Lohse, UKE-Klinikdirektor und Infektiologe, sieht eine Mitverantwortung der Politik: „Konsequenz und Vertrauen sind der Schlüssel. Es ist wichtig, die Bevölkerung in die Verantwortung zu nehmen. Denn die meisten Infektionen erfolgen im privaten Bereich, wo der Staat nichts machen kann.“ Gerade weil Pandemien viele Monate dauerten, laufe ein Nanny-Staat Gefahr, den Menschen ihr Verantwortungsbewusstsein zu nehmen – mit fatalen Folgen.
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Das unterkühlte norddeutsche Wesen zahlt sich aus
Tatsächlich hat Schleswig-Holstein nach einer scharfen Reaktion im ersten Lockdown früher und konsequenter auf Lockerungen gesetzt als andere Bundesländer. Im Frühjahr 2021 wagte Schleswig-Holstein, scharf kritisiert von den Nachbarn, die Öffnung des Tourismus und als erstes Land eine konsequente 3-G-Strategie. Anders als prophezeit stiegen die Inzidenzen kaum, der Norden blieb stets unter dem Bundesschnitt.
Allerdings dürfte zur guten Bilanz auch Glück gehören. So verweisen Experten auf die geografische Lage: Schleswig-Holstein hat nur wenige Grenzen, möglicherweise hilft sogar der Wind bei Infektionen, die sich über Aerosole verbreiten. Prof. Dr. Alexander Katalinic, der Direktor des Institutes für Sozialmedizin und Epidemiologie in Lübeck, sieht einen weiteren Grund: „Ich bin überzeugt, dass die Mehrzahl der Bevölkerung in den nördlichen Bundesländern die AHA-Regeln ernster nimmt als in südlichen Regionen Deutschlands. Warum das so ist, kann ich nicht erklären, vielleicht ist es einfach nur eine Mentalitätsfrage.“ Das unterkühlte norddeutsche Wesen – in der Pandemie Abstand halten, weniger Umarmungen und keine Küsschen – zahlt sich aus. Mancher Schleswig-Holsteiner flachst ja schon: „1,5 Meter Abstand? So nah wollen wir uns aber nun nicht kommen!“
Rund 60 Prozent der Jugendlichenim Norden sind voll geimpft
Mentalität allein kann es aber nicht sein, wenn man weiter vergleicht: Das strukturell ähnliche Bundesland Mecklenburg-Vorpommern, das politisch viel vorsichtiger agierte, steht heute schlechter da: Dort liegt die Inzidenz mit 145 doppelt so hoch wie beim Nachbarn.
Ein weiteres Plus in Schleswig-Holstein ist die hohe Impfquote – nach anfänglichen Problemen gelang es rasch, die Quote nach oben zu treiben. Als 12-17-Jährige geimpft werden durften, setzte die Landesregierung in Kiel auf mobile Impfteams und pikste an den Schulen: Rund 60 Prozent der Jugendlichen sind inzwischen voll geimpft, bundesweit liegt dieser Wert bei 42,9 Prozent.
Inzidenz in Schweden bei 55, nur 27 Personen liegen auf der Intensivstation
Interessant: Im Februar – und damit deutlich früher als andere Länder – begann Schleswig-Holstein, seine Schulen zu öffnen. Einen negativen Einfluss hatte dieser mutige Schritt nicht, vielleicht war es sogar andersherum: „Es kann sein, dass Schulschließungen sogar kontraproduktiv für die Infektionslage waren“, sagt Lohse. „Kinder und Jugendliche erkranken sehr selten schwer, sie hätten sonst möglicherweise schon eine höhere Immunität entwickeln können.“
Der Blick auf Skandinavien könnte dafür sprechen. Dänemark hatte seine Schulen nur kurz geschlossen und konnte im September alle Corona-Beschränkungen zurückfahren. Schweden, das die Bildungseinrichtungen durchgängig offen ließ, steht heute besser da: Dort liegt die Inzidenz bei 55, nur 27 Personen liegen auf der Intensivstation. In Dänemark sind es 24 – damit kommen beide skandinavischen Staaten auf eine Belegung, wie Hamburg sie allein hat.
Die Intensivbelegung verhält sich im Norden anders als im Rest der Republik
Lohse fragte seine Kollegen im Norden, was dort besser läuft: „Die Antwort war: Unsere Risikogruppen, also die ältere Bevölkerung, sind konsequent geimpft, und wir sehen jetzt nur noch eine Erkrankungswelle bei Jüngeren.“ In Dänemark sind 86 Prozent der Bevölkerung im Alter von über zwölf Jahren vollständig geimpft, in Schleswig-Holstein immerhin 82 Prozent. Zudem hatte das Bundesland alle Senioren schon im August schriftlich zu einer Auffrischungsimpfung eingeladen. Die Intensivbelegung verhält sich im Norden anders als im Rest der Republik: Derzeit liegen dort 24 Patienten – so viele wie Ende August. Bundesweit hat sich die Belegung seitdem mehr als verzweieinhalbfacht.
Doch die Pandemie hat ihre Tücken: In Dänemark, lange heimliches Vorbild für Kiel, steigen die Inzidenzen jetzt rasch an, auf inzwischen 277. Deshalb kehrt das Land zum 3-G-Modell zurück.
Lohse und Katalinic: Pflege- und Reinigungskräfte in den Einrichtungen impfen
Katalinic sieht deshalb kein skandinavisches Erfolgsmodell: „Auch in Schweden ist die Inzidenz mit 55 zwar recht niedrig, aber hier war schon jeder achte Einwohner an Covid-19 erkrankt, in Deutschland ist es nur jeder 17. Einwohner. Wenn wir von Erfolgsmodell sprechen, dann liegt das in Spanien und Portugal. Dort liegt die Impfquote über 80 Prozent.“
Einig sind sich Lohse und Katalinic, dass weitere Maßnahmen nötig sind, um in der vierten Welle die gefährdeten Gruppen besser zu schützen. „Für bestimmte Bereiche, wie das Personal in der medizinischen und pflegerischen Versorgung, muss ernsthaft über eine Impfpflicht nachgedacht werden“, sagt Katalinic. Auch Lohse mahnt an, sämtliche Pflege- und Reinigungskräfte in den Einrichtungen zu impfen. „Am Ende geht es um eins: Wir müssen die Risikogruppen besser schützen, alles andere ist unwichtig und manchmal sogar schädlich.“