Hamburg. Die Inzidenz in Hamburg bei 148,4 – Kliniken warnen vor Eskalation. Abendblatt-Umfrage: Wie Experten und Politiker gegensteuern wollen.
Auch die größten Experten müssen bisweilen klare Ansagen machen. Was in der derzeitigen pandemischen Lage das Wichtigste sei, das wusste Asklepios-Vorstand Prof. Christoph Herborn im Abendblatt-Gespräch auf einen Slogan zu bringen: „Boostern, was das Zeug hält.“
Auch wenn mit 72,4 Prozent der Erwachsenen bei Weitem nicht alle Menschen in Hamburg vollständig gegen das Coronavirus geimpft sind, steht bereits die allgemeine Auffrischung bevor. Die Ständige Impfkommission empfiehlt sie zunächst bei den über 70-Jährigen, Heimbewohnern und medizinischem Personal. Doch kommen wird der dritte Piks für alle. UKE-Intensivmediziner Prof. Stefan Kluge sagte: „Die Daten sprechen dafür, dass kurzfristig wahrscheinlich für alle Altersgruppen eine Booster-Impfung empfohlen wird.“
Corona: Booster-Impfungen gegen die vierte Welle
Und das ist nötig. Kluge sagte, bei den über 60-Jährigen schütze eine vollständige Impfung zu 90 Prozent vor dem Tod oder einem schweren Verlauf einer Corona-Infektion. „Die Auffrischungsimpfung erhöht den Schutz insbesondere bei Älteren und Immungeschwächten. Denn einige Monate nach einer Impfung sinkt die Zahl der Antikörper bei diesen Gruppen wieder. Es muss beachtet werden, dass auch Geimpfte sich infizieren und das Virus weitergeben können. Aber auch dieses Risiko wird durch eine Booster-Impfung reduziert.“
Die Debatte um die Auffrischung trifft die um die Regeln: 2G für ganz Deutschland? Der Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) hatte sich im ZDF dafür ausgesprochen und eine „Sicht der Ungeimpften auf die Pandemie“ beklagt.
85 Prozent der Patienten auf Intensivstationen ohne Impfung
Die Corona-Inzidenz in Hamburg kennt derzeit nur eine Richtung: Laut Gesundheitsbehörde stieg sie am Montag erneut – von 147,7 auf 148,4. Vor einer Woche hatte die Zahl der Neuinfektionen je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen noch 123,8 betragen. Am Montag wurden 332 Neuinfektionen gemeldet, vier weniger als am Vortag und 15 mehr als am Montag vor einer Woche. Die Zahl der Menschen, die seit Beginn der Pandemie im Zusammenhang mit dem Coronavirus in Hamburg gestorben sind, blieb laut RKI bei 1837.
Am Montagvormittag betrug die Zahl der Covid-Intensivpatienten laut dem Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) 47 Menschen; von ihnen mussten 29 invasiv beatmet werden. Die Covid-19-Patienten belegten damit 9,5 Prozent aller Hamburger Intensivbetten. Nach Zahlen der Gesundheitsbehörde waren von den 240 Betroffenen, die von Januar bis Ende Oktober auf Hamburger Intensivstationen behandelt werden mussten, 204 oder 85,4 Prozent ungeimpft.
Mehr als die Hälfte der Impfungen sind Booster
Auf der anderen Seite waren laut Robert-Koch-Institut (RKI) am Montag rund 74,5 Prozent der Menschen in Hamburg mindestens einmal geimpft. 72,4 Prozent haben einen vollständigen Impfschutz. Damit rangiert Hamburg im Ländervergleich beim Impftempo nach Bremen und dem Saarland weiterhin auf Platz drei. Der Bundesschnitt liegt bei den Erstimpfungen bei 69,7 Prozent und bei den Zweitimpfungen bei 67,1 Prozent.
Können die niedergelassenen Ärzte in Hamburg zusammen mit den Krankenhäusern und den wechselnden mobilen Impfangeboten die Impfwilligen und die Booster-Kandidaten überhaupt „bedienen“? Der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung sagt Ja. Walter Plassmann sagte dem Abendblatt, 1000 Hamburger Praxen machten mit. Er gehe davon aus, dass sie das bewältigen könnten. „Die Impfzahlen steigen an; in der letzten Woche sind rund 24.000 Impfungen in Hamburger Arztpraxen verabreicht worden, so viele wie zuletzt vor den Sommerferien. Mehr als die Hälfte davon, rund 13.500, sind Booster-Impfungen“, so Plassmann.
Politik vermittelte: Für Geimpfte ist die Pandemie vorbei
Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit spricht angesichts der aktuellen Corona-Lage von Versäumnissen. „Wir haben in Deutschland begrenzte Ressourcen im Gesundheitswesen, und wir müssen sie besser einsetzen“, sagte Schmidt-Chanasit dem Abendblatt. Das betreffe unter anderem die Testung von besonders gefährdeten Personengruppen. Dass die kostenlosen Tests auch für Geimpfte abgeschafft wurden, sieht er kritisch. „Wir sind dadurch auf einem Auge blind für das Infektionsgeschehen geworden“, so der Virologe. Gleichzeitig habe auch die Politik den falschen Glauben verbreitet, dass für Geimpfte die Pandemie quasi vorbei sei. „Jetzt haben wir eine hohe und steigende Zahl an Impfdurchbrüchen. Das hat sich deutlich gedreht.“
Konkret nennt Schmidt-Chanasit auf die Frage, was nun zu tun sei, drei zentrale Punkte. Erstens müssten die Auffrischungsimpfungen gerade für ältere Menschen zügig organisiert und durchgeführt werden. „Hamburg hat dabei ganz gut angefangen, aber etwa Schleswig-Holstein scheint noch weiter zu sein“, so der Virologe. Die Erst- und Zweitimpfung älterer Menschen liege teilweise bereits neun Monate zurück. „Das muss jetzt gut funktionieren, bevor wir in eine Lage kommen, die weitere Maßnahmen erzwingt.“
„2G vermittelt eine Scheinsicherheit“
Neben den Booster-Impfungen dürfe aber auch die Erhöhung der allgemeinen Impfquote insbesondere bei den über 60-Jährigen nicht vernachlässigt werden. „Die klare Rückmeldung von den Intensivstationen ist, dass es dort weiter auch viele Patienten mit Sprachbarrieren gibt“, sagt Schmidt-Chanasit. „Es reicht nicht, nur pauschale Angebote zu machen. Man muss die Menschen vor Ort – gerade und auch die Mitbürger mit ausländischen Wurzeln – besser erreichen.“
Zweitens sei eine andere Teststrategie nötig. Schmidt-Chanasit drängt darauf, gerade in Alten- und Pflegeheimen mit Pool-PCR-Tests flächendeckend und umfassend mindestens zweimal wöchentlich zu testen. Eine 2G-Regelung sei gerade in diesen sensiblen Bereichen der falsche Weg. „2G vermittelt eine Scheinsicherheit, während weiter ein Infektionsrisiko besteht. Das Personal muss dort auch dabei unterstützt werden“, fordert Schmidt-Chanasit.
Denn als dritte große Baustelle sieht der Virologe weiterhin die Personalsituation in der Pflege. „Der Mangel ist leider bekannt – und die vergangene Zeit ist nicht dafür genutzt worden, entschieden etwas dagegen zu unternehmen.“ Das sei besonders für die Hygienestandards in den Einrichtungen fatal. „Fällt eine Pflegekraft krankheitsbedingt aus, fällt oftmals das ganze Hygienekonzept vor Ort in sich zusammen.“ Wenn aber grundlegende Hygienestandards nicht eingehalten oder auch die Tests aus Personalmangel nicht richtig durchgeführt werden, finde das Coronavirus ideale Bedingungen vor.
KV-Chef: Entscheidung zu Tests rückgängig machen
Zu diesen „idealen Bedingungen“ gehört auch die Ungewissheit über eine Infektion. UKE-Arzt Kluge spricht sich für die Rückkehr flächendeckender Tests aus. „Jeder Mediziner befürwortet mehr Tests. Selbst ein Antigen-Schnelltest ist besser als kein Test – vor allem im Hinblick auf Besuche bei älteren Verwandten oder in Heimen. Aber auch wenn es vermutlich teurer ist, muss man wieder mehr Tests für alle anbieten.“
KV-Chef Plassmann sagte dazu: „Eine Ausweitung der Tests ist sinnvoll. Die KV Hamburg hat die Entscheidung, die Bürgertests kostenpflichtig zu machen, stets kritisiert. Deshalb befürworten wir es, wenn diese Entscheidung rückgängig gemacht wird. Dadurch lassen sich wieder mehr Menschen testen, was zu einer besseren Übersicht über die Infektionslage führt.“
„Bund und Länder müssen zügig entscheiden, um die vierte Welle zu stoppen.“
Die Politik ist gefordert, und in Hamburg regt sich auch die Opposition. Zur aktuellen Corona-Lage erklärte Dennis Thering, Vorsitzender der CDU-Fraktion: „Bund und Länder müssen angesichts der stark steigenden Inzidenzen und der allmählich anwachsenden Auslastung in den Krankenhäusern jetzt zügig zu gemeinsamen Entscheidungen kommen, um die vierte Welle zu stoppen.“ Aus Sicht der CDU-Fraktion sollen Corona-Tests grundsätzlich für alle wieder kostenlos möglich sein.
Thering meinte, das aktuelle 2G-Optionsmodell sollte angesichts hoher Inzidenzzahlen unter den Ungeimpften und niedriger unter den Geimpften „grundsätzlich in Hamburg zum Regelmodell werden – ausgenommen notwendige Grundbedürfnisse des täglichen Lebens“. Weiterhin forderte Thering, dass Booster-Impfungen jetzt zügig umgesetzt werden müssten. „Booster-Berechtigte sollen nach rund sechs Monaten automatisch mit einem konkreten Terminvorschlag angeschrieben werden. Nur Hausärzte, Krankenhäuser und mobile Impfteams reichen nicht aus, das Angebot muss der ganzen Stadt so niedrigschwellig wie möglich gemacht werden.“
„Impfpflicht wäre ein starker Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit“
Da die bisherigen Schutzmaßnahmen in medizinischen Einrichtungen nicht ausreichten, empfahl Thering weitergehende Maßnahmen: „Außerdem sollte eine Pflicht zur Schutzimpfung gegen das Coronavirus für Personen gelten, die in medizinischen Einrichtungen, Alten- und Pflegeheimen sowie Schulen und Kindertagesstätten tätig sind.“
Eine Impfpflicht stößt bei Experten nach wie vor auf Skepsis. KV-Chef Plassmann sagte: „Eine Impfpflicht wäre ein sehr starker Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Dort, wo wir sie aktuell für einige Berufsgruppen haben (beispielsweise Hepatitis B für Rettungskräfte, Masern für Kita-Angestellte), haben wir es mit einem stabilen Virus und einem in vielen Jahren erprobten Impfstoff zu tun Beides ist bei Corona nicht gegeben.“ Aus diesem Grund dürfte die juristische Abwägung zwischen dem Eingriff in das Grundrecht und dem Nutzen einer Impfung gegen eine Impfpflicht ausfallen.
Virologe Schmidt-Chanasit meinte zum Begriff der „Tyrannei der Ungeimpften“ des Weltärzte-Präsidenten Frank Ulrich Montgomery: „Man muss sehr vorsichtig mit solchen Aussagen sein.“ Es bestehe keine Impfpflicht in Deutschland – entsprechend verböten sich auch pauschale Schuldzuweisungen.