Geübte Kitesurfer wirbeln trickreich durch die Lüfte. Aber aller Anfang ist schwer, zeigt ein Selbstversuch vor Büsum
Draußen herrscht das Dunkel der Nacht. Nur ein Leuchtturm hilft den Schiffbrüchigen auf ihrem Weg zur Insel der gestrandeten Seelen. Sein
Name: "Domicile". Auch bekannt als: die allerletzte Kneipe vor Helgoland. Endstation jeglicher Sehnsucht. Fünf Einheimische kauern stumm am Tresen mit leicht glasigem Blick über einem frisch gezapften Dithmarscher. Wie schon so oft. Wie schon zu oft. Die Szene erinnert an Edward Hoppers Bild "Nachtschwärmer". Nur auf Platt eben.
Ab und an hebt einer die Hand und signalisiert der sympathischen Blondine hinterm Tresen "noch eins bitte". Ansonsten wird nicht viel geredet. Worüber die fünf Kneipen-Kapitäne sinnieren? Man weiß es nicht. Über Wind, Wellen, verwehte Wünsche? Was eben so durch Friesen-Köpfe schwappen mag an einem viel zu kalten Sommerabend in Büsum.
Büsum, das Nordseebad mit dem 70er-Jahre-Charme. Beliebt besonders bei Rentnern. Denn hier dürfen sie sein, hier fühlen sie sich wohl. "Nicht halb so groß wie der Friedhof von Chicago, aber doppelt so tot", kommentiert "Domicile"-Wirt Norbert Lutz das Phänomen ganz friesisch.
Auch Familien kommen gerne her. An den Strand ohne Sand, erklärt der Marketingchef. Statt feiner Puderkörner gibt es hier Gras so weit das Auge reicht. Da können die süßen Kleinen buddeln und baggern wie sie wollen, zu Hause bleibe alles sauber.
Doch nun erlebt Büsum einen Kulturschock. Eine neue Gattung Tourist ist im Anmarsch. Jung, draufgängerisch und sexy: der Kiteboarder. Aus ganz Deutschland reiste die Crème de la Crème zum ersten Mal an die Meldorfer Bucht zur deutschen Meisterschaft, der Seat Kitesurf Trophy.
Ich bin da, um mir das Spektakel anzusehen. Und ich will wissen: Was fasziniert an diesem Trendsport, der vor zehn Jahren aus dem Surfen geboren wurde und heute weltweit knapp 160 000 Anhänger zählt?
Mir ist ein wenig mulmig an diesem Morgen auf dem Weg zum Schnupperkurs. In meinem Kopf läuft ein Film. Er zeigt Kiter, die durch die Luft katapultiert werden wie Plastiktüten. Die an Hauswände klatschen wie Fliegen an Windschutzscheiben. Einige kommen mit Knochenbrüchen davon. Andere zahlen mit ihrem Leben. Wie die deutsche Meisterin Silke Gorldt, deren Schirm sich 2001 in Zingst auf dem Darß mit den Leinen eines Konkurrenten verhedderte. Beide Drachen schleppten die 26jährige Profi-Kiterin über den Strand, schmetterten sie gegen Buhnen und Bretterzäune.
"Die meisten Unfälle basieren auf menschlichem Versagen ", sagt Kitesurflehrer Dominik Schlemmer, 32. "17 Knochenbrüche erlitt eine Kiterin in Wilhelmshaven. Nur weil sie zwischen zwei Häusern surfte, mächtig Druck auf die Tüte bekam und gegen ein Haus knallte. Das war dumm." Seit zehn Jahren steht der gebürtige Hesse auf dem Brett.
Heute, sagt Dominik, verhindern zwei Sicherheitssysteme schlimmere Unfälle. Der Quick-Release - eine Reißleine, mit der man sich immer von der Lenkstange (auch Bar genannt) lösen kann, so dass man nicht mehr am Schirm hängt. Und das Depower-System mit dem die Zugkraft stufenlos regulierbar ist: "Wenn du zu viel Druck im Schirm hast, schiebst du die Bar einfach von deinem Körper weg und schon fällt der Druck." Außerdem ist das Flugverhalten mit den neuen Schirmen stabiler und damit sicherer geworden. "Man kann sie beidseitig befahren. Das war früher nicht so." Fußballspielen und Skifahren sollen heutzutage gefährlicher sein als Kitesurfen
Genug geredet. Ich will wissen, wovon die Drachenbändiger schwärmen. Doch schlappe vier Knoten vor Büsums Küste bremsen meinen Tatendrang. Zu wenig Wind. Zeit für Trockenübungen. Ich lerne, den Kite mit einer manuellen Pumpe wie eine Luftmatratze aufzublasen, die Schnüre zwischen Lenkstange und Drachen zu ordnen und mit der "Übungsmatte" hübsche Achten in den blauen Himmel zu malen. Von zwölf auf ein auf elf Uhr. Dabei keine ruckartigen Bewegungen und nur leicht die Bar links oder rechts ziehen.
Am nächsten Morgen gilt mein erster Blick den Bäumen vorm Fenster. Kräftig biegen sich die Äste im Wind. 18 Knoten. Das reicht. Während ich mich in meinen Neoprenanzug zwänge und in das windelähnliche Trapez schlüpfe, pumpt Dominik den acht Quadratmeter großen Bowschirm auf.
Es gibt zwei Arten von Kites. Die meisten benutzen die Tube-Kites. Deren Kammern werden an Land aufgeblasen, damit sie im Wasser nicht untergehen. In dieser Gruppe gibt es vier verschieden Schirme: den Bow, Delta, C- und den Hybrid-Kite. "Bow-Kites" decken mit Hilfe eines aufwendigen Leinensystems einen sehr großen Windbereich ab und ermöglichen ein nahezu hundertprozentiges "Depowern". Dann gibt es noch die so genannten Matten, die besonders in Leichtwind-Revieren (wie an Binnenseen) genutzt werden. Diese Soft-Kites muss man nicht aufpumpen, da sich ihre Luftkammern durch den Wind füllen. Man kann sie alleine starten. "Aber generell ist es immer besser, so etwas zu zweit zu machen", rät Dominik.
Die Größe des Kites hängt von der Windgeschwindigkeit und dem Können des Kiters ab. Generell gilt: Je stärker der Wind, umso kleiner der Drachen. Denn eine Verdoppelung der Windgeschwindigkeit kann eine Vervierfachung der Kräfte im Kite nach sich ziehen. "Ein Neun-Quadratmeter-Schirm kann bei sechs Windstärken locker zwei Männer aus dem Wasser reißen", sagt Dominik, während er mit mir über den Asphaltdeich von Büsum aufs Watt läuft. Es herrscht Ebbe. Wir müssen eine Weile gehen bis zum knietiefen Wasser. Der graue Himmel und die elf Grad kalte Nordsee wirken wenig einladend. Doch der Neo hält warm. "Jetzt üben wir den Bodydrag. Dabei wirst du ohne Brett vom Schirm durchs Wasser gezogen", sagt Dominik. "Der Körper wird zur Finne und man kann so nach einem Sturz schnell zum Brett zurückgelangen", erklärt mein Lehrer.
Ich knie im Wasser und schaue 25 Meter hoch zum Schirm. Ganz sanft ziehe ich die Bar nach rechts und sehe wie der Drachen mir folgt. Anfangs noch träge, doch plötzlich lässt er mich seine Kraft spüren.
Ein Stoßgebet flüsternd und mit Dominik im Schlepptau rausche ich durch die Wellen der Nordsee. Ich lache, wie schon lange nicht mehr und schaufele dabei literweise Nordseewasser. Auf dem Schirm ist kräftig Druck. Panisch will ich mich an der Bar festhalten. Falscher Reflex, denke ich, und zwinge mich die Bar nach oben zu schieben. Schließlich will ich nicht wie ein Speedjunkie mit 100 Sachen übers Wasser fegen.
Es funktioniert. Der Druck fällt. "Versuch den Schirm auf elf Uhr zu lenken", schreit Dominik. Ich ziehe zu heftig und werde sofort abgestraft: Der Schirm stürzt ins Meer wie eine abgeschossene Ente.
Wir haben nicht mehr viel Zeit, die Flut steigt. Aber einmal auf dem Brett stehen, das muss schon sein. Dominik nickt und zeigt mir, wie ich mich ins Wasser hocken muss. "Das Gewicht auf das hintere Bein und langsam aufstehen, während der Schirm dich aus dem Wasser zieht." Und er zieht... ich stehe... nein... zack, platsch. Immerhin! Gefühlte zwei Meter bin ich gefahren. Dominik lacht und winkt zum Rückzug.
Den Backloop - das ist eine Rolle rückwärts und der erste Sprung, den Boarder auf dem Wasser lernen - schaffe ich wohl heute nicht mehr.
Dabei ist genau das das Ziel beim Kitesurfen: mit möglichst gewagten und trickreichen Sprüngen durch die Lüfte zu wirbeln. Bis zu zehn Meter (einige behaupten gar 48 Meter) reißt es manche Flieger in die Höhe. Dort segeln sie dann sekundenlang durch den Äther. Schwerelos und frei. Die Macht des Windes in der Hand.
Ich merke nun die Macht der Kälte, die an meinen nassen Haaren nagt. Und spüre die Erschöpfung. Ein Himmelreich für eine Sauna. Zwei Stunden später sitze ich aufgewärmt auf dem Asphaltdeich und schaue aufs Watt. Diese unendliche Weite. Orangerot versinkt die Sonne im Meer und ist dabei so schön kitschig, dass es mir in den Zähnen zieht.
Müde und mit einem kühlen Blonden in der Hand bewundere ich die Drachen der Schattenspieler, die nie genug bekommen. Wie sie tanzen mit dem Wind, vor der goldenen Sonne. Ich denke: Ich bin halb so alt wie der Durchschnitt in Büsum, warum nur fühle ich mich grad doppelt so tot?