Immer mehr Schiffe und immer größere Neubauten. Der Kreuzfahrtmarkt expandiert, als gäbe es keine Grenzen. Überkapazitäten drohen aber nicht.
Hamburg. Mit der "MSC Magnifica" wird heute in Hamburg wieder ein Kreuzfahrtschiff der Mega-Klasse getauft. Kann der Boom denn tatsächlich immer so weiter gehen? Das Abendblatt befragte dazu Helge Grammerstorf, Kreuzfahrtexperte aus Hamburg.
Hamburger Abendblatt: Neulich wurde in Hamburg die "Aidablu" getauft, dann in Dubai die "Costa Deliziosa", jetzt folgt schon die "MSC Magnifica", wieder für etwa 2500 Passagiere. Wird Ihnen als Fachmann und unabhängiger Beobachter der Kreuzfahrt-Szene die rasante Entwicklung nicht langsam unheimlich?
Helge Grammerstorf: Nein, auf absehbare Zeit kann und wird das so weitergehen, warum soll mir das unheimlich sein? Vor zehn Jahren habe ich vorausgesagt, dass wir bis 2010 eine Million deutscher Kreuzfahrt-Passagiere haben werden. Damals wurde ich belächelt, heute haben wir genau diese Zahl erreicht. Und bis 2018, das ist jetzt meine Prognose, werden es zwei Millionen sein. Der Boom speist sich aber längst aus ganz unterschiedlichen Zielgruppen, auch und vor allem solchen, die früher nicht im Traum daran dachten, ihren Urlaub auf See zu verbringen. Für diese Zielgruppe, die auch an Land eher Pauschal- oder Cluburlaub bucht, sind große Schiffe wie die von AIDA, MSC oder Costa nichts anderes als die großen Ferienhotels oder Clubanlagen an Land. Was allerdings derzeit fehlt und demnächst verstärkt auf dem Markt nachgefragt werden wird: neue Schiffe überschaubarer Größe, von 200 bis 600 Passagieren, auf denen sich eine ganz andere Kreuzfahrer-Gruppe wohlfühlt als auf den großen neuen Schiffen. Da müssen Reeder, Veranstalter, Werften schon bald reagieren.
Abendblatt: Lebt denn die Seetouristik auf einem Stern, auf dem es keine Krise, keine Sparzwänge, keine "neue Bescheidenheit" gibt?
Grammerstorf: Es ist zwar eine leichte Zurückhaltung in einigen Kreuzfahrtbereichen zu spüren, aber keinesfalls generell. Es gibt eben schon lange nicht mehr "die Kreuzfahrer" oder "die Seetouristik". Das Klientel der klassischen, eleganten Kreuzfahrt schrumpft, die Gruppe der so genannten Best Ager hingegen wächst - also Leute ab etwa 50, nicht reich, aber gut situiert, mit Reise- und Spracherfahrung, mobil, deutlich legerer im Habitus und auch in der Erwartung des Bordalltags. Und noch viel stärker wächst die Gruppe jener potenziellen Kreuzfahrer, denen das Zielgebiet nur bedingt wichtig ist, umso mehr aber der Spaß an Bord, gern mit sehr vielen Gleichgesinnten. Diese große Gruppe, etwas abwertend "Massenmarkt" genannt, wird sich auch künftig auf Schiffen von der Größenordnung der Flotten von AIDA, MSC oder Costa wohl fühlen.
Abendblatt: Halten denn die notwendigen logistischen Einrichtungen in den deutschen Häfen - etwa moderne Terminals, bequeme Verkehrsanbindungen - Schritt mit der Entwicklung?
Grammerstorf: Ja, in Deutschland haben Häfen wie Kiel, Rostock oder auch Bremerhaven den Boom rechtzeitig erkannt und sich mit service-orientierten Terminals darauf vorbereitet. Hamburg hat lange, fast zu lange gezögert, jetzt aber mit Volldampf nachgezogen. Das große Rad aber wird künftig sowieso in der Ferne gedreht, ganz besonders in Südostasien. Die großen Schiffe brauchen politisch stabile Fahrtreviere, die sie ganzjährig befahren können. Da werden mit Singapur oder Malaysia neue Zentren des internationalen Seetourismus entstehen. Wer heute nicht über den heimischen Tellerrand schauen kann, hat schon fast verloren.
Abendblatt: Viele der neuen Kreuzfahrtriesen ähneln doch eher schwimmenden Freizeit-Fabriken als jenen Schiffen, die noch bis vor Kurzem maritime Träume geweckt haben. Stört das die jetzt angepeilten Zielgruppen denn gar nicht?
Grammerstorf: Zugegeben, traditionellen Schiffsliebhabern, vor allem bei uns an der Küste, mögen manchmal Tränen in den Augen stehen. Aber Reedereien, die mit großen Passagierzahlen rechnen, haben wenig Spielraum für nostalgische Gefühle. Die Erfahrung der jüngsten Vergangenheit hat gezeigt: Urlauber, die sich in großen Hotels kaum an der Fassade gestört haben, haben auch keine Probleme, wenn ihre "Traumschiffe" den großen Ferienanlagen an Land immer ähnlicher werden. Der Wurm, so kalkulieren nun mal die Kaufleute, auch die im maritimen Bereich, muss letztlich dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.
Abendblatt: Noch vor wenigen Jahren hieß es, Kreuzfahrten und Internet, das passt nicht zusammen. Das Produkt Seereisen sei viel zu sehr an persönliche Beratung gebunden. Inzwischen gibt es zahlreiche entsprechende Online-Portale, auch Last-Minute-Angebote für Seereisen. Ist die Fachkraft im Reisebüro, spezialisiert auf Kreuzfahrten und mit langjähriger Erfahrung an Bord und vor Ort, nicht mehr gefragt?
Grammerstorf: Doch, das ist sie und wird sie weiterhin sein. Und zwar für das hochkarätige Angebot, für die Klassiker unter den Schiffen - und unter den Passagieren. Dieses Klientel will persönlich beraten werden, auch über Vor- und Nachprogramme. Die meisten neuen Angebote aber, vor allem die der großen Flotten, sind so standardisiert, dass sie mühelos übers Internet gebucht werden können, weil sich so gut wie alle Fragen auf den entsprechenden Websites klären lassen. Im Übrigen gilt für die Kreuzfahrt wie für jedes Hotel an Land: Wer nicht im Internet auftritt, existiert für einen erheblichen Teil der Interessenten gar nicht.