Die tschechische Metropole lässt niemanden, der einmal zu Besuch war, wieder richtig los. Drei Tage reichen für das Gesamtkunstwerk kaum aus.
Die kleine Galerie, die vergilbte Fotos, grellbunte neue Grafik und böhmisches Kristallglas verkauft, passt zum Burgviertel und seinen engen Gassen. Die alte Dame, die sich freut, mit uns Deutsch zu sprechen, und die so anrührend erzählen kann von der bitteren Vergangenheit und der lebensfrohen Gegenwart, passt zu diesem Laden. Und die zufällige Begegnung mit ihr passt zu Prag, dieser vibrierenden und zugleich an so vielen Stellen melancholisch wirkenden Metropole.
Im Grand Café Orient, nur ein paar Schritte vom Platz der Republik entfernt, sind wir mit Bara Prochazkova verabredet, einer Prager Journalistin, die sechs Jahre in Hamburg gelebt hat. Das Orient, ein Hort des Kubismus und eine Herberge der Nostalgie, ist eines der etwa sechs oder sieben legendären Kaffeehäuser aus der Zeit, "als Böhmen noch bei Österreich war".
Aharon Ester gehört zu den engagierten Mitgliedern der kleinen jüdischen Gemeinde von Prag, die einmal eine der größten in Europa war. Der junge Historiker führt uns auf dem Friedhof aus dem 15. Jahrhundert zum Grab des Rabbi Löw, einer Symbolfigur des mystischen Prag. Aharon hilft uns auch, einige Eindrücke in den sechs Synagogen der Josefstadt, des ehemaligen Wohnviertels der Juden, zu ordnen: Stile, Jahreszahlen, Bedeutung. In der Pinkas-Synagoge jedoch, vor den Zeichnungen von Kindern aus dem KZ Theresienstadt, die diese kurz vor ihrer Ermordung gemalt haben, bleibt nur stumme Fassungslosigkeit.
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Drei Orte, drei Menschen, die für ihr Prag stehen, für die einzigartige Poesie dieser Stadt und für die Verbindung aus Tragödie, Tradition und neuem Tempo. Und doch sind diese Begegnungen allenfalls Mosaiksteine. Denn das Bild der tschechischen Hauptstadt ist geprägt von einer in Europa wohl einmaligen Farbmischung: von goldglänzend bis zu jenen dunklen Tönen, die an die Schreckenszeit der deutschen Besetzung und die lange Unterdrückung im kommunistischen System erinnern.
Sogar in der Josefstadt und am Wenzelsplatz, den beiden bekanntesten Schauplätzen schlimmer Zeiten, hat sich fröhlicher Alltag durchgesetzt. Jugend aus aller Welt turnt auf dem Denkmal des heiligen Wenzel herum, der Ikone für Einheit und Freiheit aller Tschechen. Koschere Lokale wie das King Solomon in der Nähe der Synagogen sind bei den Feinschmeckern der Stadt so selbstverständlich beliebt wie andere kreative Küchen. Und die Pariser Straße, der Prachtboulevard dieses Viertels, hat sich zu einer Meile teurer Boutiquen entwickelt.
Drei Tage reichen für das Gesamtkunstwerk Prag kaum aus, obwohl die Stadt kompakt und mit 1,2 Millionen Einwohnern auf einer Fläche von knapp 500 Quadratkilometern deutlich kleiner als Hamburg ist. Die Straßenbahn ist ideale Ergänzung zum lustvollen Sich-treiben-Lassen. Die Tramlinie 22 verbindet nicht nur einige herausragende Sehenswürdigkeiten zwischen dem Burgviertel auf der Kleinseite, dem westlichen Ufer der Moldau und der Neustadt auf der anderen Seite. Eine solche Fahrt ermöglicht auch einen Blick in den Alltag der Prager.
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Die berühmte Karlsbrücke allerdings, Wahrzeichen und historisches Bindeglied beider Seiten, kann nur zu Fuß erlebt werden, und das in der Regel auch nur im gedrängten Miteinander von Pragbesuchern aus aller Welt. Man mag das alltägliche Spektakel auf der 520 Meter langen Brücke touristisch nennen, aber so ein Spaziergang macht Spaß, er gehört zu Prag wie die Hafenrundfahrt zu Hamburg. Zwischen den Heiligenfiguren auf beiden Seiten wird Jazz geboten, Scherenschneider, Maler, Schmuckdesigner und T-Shirt-Verkäufer lenken kurzfristig vom Blick auf die Moldau und die Türme an ihren Ufern ab: ein sympathischer Rummelplatz mit schöner Kulisse.
Die Stadt blüht derzeit auf wie zu keiner anderen Jahreszeit. Im Park hinter dem Palais Lobkowitz, der deutschen Botschaft auf der Kleinseite, lassen die üppig grünen Bäume kaum Sicht auf den Balkon zu, von dem Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 den 15 000 DDR-Flüchtlingen im Garten die Freiheit verkünden konnte: "Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen ..." Der Rest seiner Rede ging im Jubel der Botschaftsasylanten unter. Gänsehaut noch heute.
Für Bara, die junge Journalistin, ist das alles Geschichte. Sie war damals zehn Jahre alt, heute ist sie eine moderne Frau, die sich zwar "Pragerin aus ganzem Herzen und überzeugte Wahl-Hamburgerin" nennt, aber kosmopolitisch lebt und denkt - eine typische Vertreterin ihrer Generation. Sie hat an der Elbe Politik und Osteuropa-Kunde studiert, mit einem Stipendium der Deutsch-Tschechischen Gesellschaft, und sich "unglaublich wohlgefühlt in Hamburg". Bara liebt Kaffeehäuser mit Patina, so herzerwärmende Kavarnas wie das Grand Café Orient, in dem wir über Prag und Hamburg und die aus ihrer Sicht nahezu eingeschlafene Städtepartnerschaft sprechen. 100 Jahre nach der Eröffnung und 20 Jahre nach der Renovierung fühlen sich in Baras Lieblingstreff wieder viele Literaten und Lebenskünstler zu Hause, auch solche, die ihre Zeitung zum Kaffee vorwiegend auf dem Laptop lesen.
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Auch das Louvre oder das Slavia, Institutionen, die über alle Stürme der Geschichte hinweg die Wohnzimmer vieler Musiker und Autoren waren, gehören zu ihren Stammlokalen. Dort haben sie Karten oder Billard gespielt und die Welt verändert, zumindest bis zum nächsten Morgen: Komponisten wie Smetana, Dichter wie Rainer Maria Rilke und natürlich Franz Kafka. Mit seiner Geburtsstadt verband Kafka zeit seines kurzen Lebens ein ambivalentes Verhältnis: "Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen", hat er schon als 19-Jähriger behauptet.
Wer Prag loslässt, ohne mindestens ein Pivnice, eines der klassischen Bierlokale, aufgesucht zu haben, versäumt mehr als nur kulinarischen Spaß. Nirgendwo kommt man der Seele und dem Herzen der Moldau-Metropole so nahe wie in diesen immer noch größtenteils verräucherten Kellerkneipen. In manchen, wie dem rustikalen U Vystreleneho Oka - das heißt "Zum ausgeschossenen Auge" -, tobt das Leben schon am frühen Morgen. Anderswo, zum Beispiel im gediegenen Medvidku, trifft sich Prag spätestens mittags, um zum Budweiser oder, noch besser, zum Dunkelbier eine halbe Kirmesente mit Knedliky, hausgemachten Speck- oder Kartoffelknödeln, zu genießen.
Die meisten Genüsse und Prager Attraktionen müssen mit vielen Menschen geteilt werden: Die Kneipen sowieso, da bringt erst ein volles Haus die richtige Atmosphäre, auch die Gassen rund um den schönsten Jugendstilpalast, das Gemeindehaus (Obecni dum) mit seinem feinen Café, ebenso der Platz vor dem Altstädter Rathaus mit der astronomischen Uhr, an der zu jeder vollen Stunde der Tod die zwölf Apostel paradieren lässt.
Aber frühmorgens oder am Abend, wenn die Karlsbrücke und das goldene Dach des Nationaltheaters im nebligen Dunst verschwimmen oder im warmen Licht der letzten Sonnenstrahlen glänzen, verzaubert sich die sonst so bunte Stadt in eine "Verführerin mit 1000 Schleiern", wie der Prager Milos Forman, Regisseur des märchenhaften Mozartfilms "Amadeus", seine Stadt genannt hat. Sie gehört dann für kurze Zeit jedem einzelnen fantasievollen Besucher ganz allein.