Bargteheide. Der gebürtige Hamburger Ivar Buterfas-Frankenthal schildert in Bargteheide die Grauen des Dritten Reichs.

In den vergangenen Jahren erhielt er mehr als 30 Morddrohungen, die jüngste ist gerade vier Wochen her. Wenn er bei öffentlichen Veranstaltungen auftritt, wie zuletzt in Bremen und Stade, sorgen die Organisatoren für Polizeischutz. Sein Zuhause im Landkreis Harburg, südlich der Elbe, ist gesichert wie eine Festung. Es gibt eine Alarmanlage und elektrische Jalousien, die Fenster sind aus Panzerglas, mehr als 20 Kameras und Dutzende Scheinwerfer sind über das gesamte Grundstück verteilt. „Es gibt in diesem Land eben noch immer viele Leute, denen missfällt, was ich über das Leben im Dritten Reich berichte und sich am liebsten ein Viertes Reich wünschen. Doch deshalb werde ich mir den Mund nicht verbieten lassen und Zeugnis ablegen, so lange ich das noch kann“, sagt Ivar Buterfas-Frankenthal, einer der letzten lebenden Zeitzeugen des Holocausts in der Metropolregion Hamburg.

Gerade war der fast 91-Jährige zu Gast in der Dietrich-Bonhoeffer-Schule Bargteheide. Er löste damit ein Versprechen ein, nachdem er eine erste Einladung im September absagen musste. An diesem Vormittag ist die DBS-Aula fast auf den letzten Platz gefüllt. Mehr als 330 Schüler und ihre Lehrkräfte, auch aus der benachbarten Anne-Frank-Schule und der Waldorfschule, sind gekommen zu diesem Zeitzeugengespräch im Aktionsmonat für Vielfalt und gegen Diskriminierung, den es in Bargteheide zum zweiten Mal nach 2022 gibt.

Seine Liebe zu Hamburg ist ungebrochen

Rastlos ist Ivar Buterfas-Frankenthal momentan unterwegs, um seine Geschichte zu erzählen. Gerade in diesen Tagen, in denen der Nahost-Konflikt durch den brutalen Überfall der radikalislamischen Hamas auf Israel einmal mehr eskaliert ist. Und Israels Gegenangriffe nun dafür sorgen, dass sich der latente Antisemitismus in Deutschland wieder offen Bahn gebrochen hat.

Ivar und Dagmar Buterfas-Frankenthal beim Signieren ihres Buches „Von ganz, ganz Unten“.
Ivar und Dagmar Buterfas-Frankenthal beim Signieren ihres Buches „Von ganz, ganz Unten“. © HA | Lutz Kastendieck

„Er wird uns wohl bis in alle Ewigkeit begleiten“, sagt Buterfas-Frankenthal. Aber ausgerechnet in Deutschland, wo das Land wegen seiner Geschichte doch eine besondere Verantwortung trage? Das schmerze ihn sehr. Weil er in diesem Land zur Welt gekommen sei und es trotz allem stets als seine Heimat gesehen habe. Vor allem Hamburg, seine Geburtsstadt, die für ihn noch immer eine der schönsten Städte überhaupt ist.

Als „Judenbalg“ vom Schulhof gejagt

Dabei musste der 1933, nur wenige Tage vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten Geborene bereits in frühen Lebensjahren erfahren, was es heißt, terrorisiert und ausgegrenzt zu werden. „Als Kind eines jüdischen Vaters und einer Christin war ich Halbjude. Damit war mein Schicksal in Hitlerdeutschland besiegelt“, berichtete Buterfas-Frankenthal.

Er erinnere sich noch immer ganz genau an jenen Tag im Jahr 1938, als der Schulleiter ihn unter der Hakenkreuzfahne in Hamburg-Horn nach vorn zitierte. Für ein „Judenbalg“ wie ihn sei an dieser Schule kein Platz mehr, weshalb er auf der Stelle verschwinden und sich nie mehr blicken lassen möge, habe der Mann geschrien.

Mädchen haben gespuckt und Jungen getreten

„Mädchen haben mich dann angespuckt und Jungen nach mir getreten“, erinnerte sich Buterfas-Frankenthal. Man habe ihm die Hose heruntergezogen und ihm mit einer glühenden Zigarette ein Loch in den Oberschenkel gebrannt. Anschließend wollten sie ihn mit den Worten „Jetzt werden wir die Judensau rösten“ auf einen Abtritt zwingen, unter dem bereits mit Zeitungen ein Feuer entfacht worden war.

Der Zeitzeuge im Gespräch mit DBS-Schülerin Lenja.
Der Zeitzeuge im Gespräch mit DBS-Schülerin Lenja. © HA | Lutz Kastendieck

„Nur durch das beherzte Eingreifen von Passanten kam ich völlig abgerissen und verängstigt davon“, erzählt Buterfas-Frankenthal. Eine traumatische Erfahrung, die ihn noch heute in mancher Nacht schweißgebadet aus dem Schlaf reiße. „Ich habe das nie verwunden und ein Leben lang mit mir herumgetragen“, sagt er.

Flucht nach Polen und zurück nach Hamburg

Ebenso wie die Erlebnisse auf der Flucht. Die Mutter habe ihn und seine sieben Geschwister von Hamburg nach Polen gebracht. Rechtlos und ausgeplündert sei die Situation dort aber bald ebenso unerträglich gewesen. Die Rückkehr in die Hansestadt an der Elbe habe ihre Lage aber kaum verbessert.

„Wir hausten vier lange Jahre in Kellern zerbombter Häuser ohne Türen und Fenster, ohne Essen und Trinken“, so der Zeitzeuge. Mit den älteren Brüdern habe er in den Ruinen der Elbvillen nach Nahrung und allem gesucht, was irgendwie von Nutzen sein konnte. So sei der Kampf ums Überleben zum schrecklichen Alltag geworden, bis die Briten im Mai 1945 Hamburg befreit hätten.

Ehefrau Dagmar gab ihm Lebensmut zurück

„Doch selbst nach dem Ende des Krieges fanden viele Juden keinen Frieden. In den Trümmern der Städte wurden oft sie für das namenlose Inferno mit 75 Millionen Toten verantwortlich gemacht, während viele Altnazis wieder in Amt und Würden kamen“, sagt Buterfas-Frankenthal.

Blick vom Podium in die vollbesetzte DBS-Aula mit mehr als 330 Schülern und Lehrern.
Blick vom Podium in die vollbesetzte DBS-Aula mit mehr als 330 Schülern und Lehrern. © HA | Lutz Kastendieck

Mehr als einmal habe er damals den Tod herbeigesehnt. Den „Glauben an die Menschheit“ zurückgegeben hat ihm schließlich seine Frau Dagmar, mit er nun 68 Jahre verheiratet ist und ihn bei seinen Vorträgen stets begleitet. Gemeinsam gründeten sie 1971 eine Baufirma, die sich vor allem auf Haussanierungen spezialisiert hat und inzwischen von Tochter und Schwiegersohn geführt wird. Im März 2016 hatte Buterfas den Nachnamen seiner Frau seinem angefügt.

Buterfas hat sich für Erhalt der Nikolai-Kirche eingesetzt

Ob er denn mit der „schrecklichen Vergangenheit“ Frieden geschlossen habe, wollte DBS-Schülerin Lenja von ihm wissen. Er arbeite jeden Tag daran, erwiderte Ivar Buterfas-Frankenthal. So hat er sich etwa für den Erhalt der Hamburger St. Nikolai-Kirche als Mahnmal gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus eingesetzt und auch maßgeblich für den Umbau des ehemaligen Straf- und Gefangenenlagers Sandbostel bei Bremervörde zu einer Gedenkstätte gesorgt.

„Für unsere Generation sind solche persönlichen Begegnungen mit Zeitzeugen des Holocaust enorm wichtig, weil es mit den Jahren immer weniger Überlebende gibt, die von ihren persönlichen Erfahrungen berichten können“, befand Lenja anschließend. „Wir müssen das Wissen über diese Verbrechen weitertragen, damit sie sich niemals wiederholen werden“, so die Schülerin.

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„Als Schüler von Schulen, die den Namen von Dietrich Bonhoeffer und Anne Frank tragen, die beide von den Nazis ermordet worden sind, tragt ihr eine besondere Verpflichtung“, appellierte der Zeitzeuge an seine jugendlichen Zuhörer. „Schaut nicht weg, wenn es Übergriffe auf Migranten gibt und geht den Rechtspopulisten von der AfD nicht auf den Leim. Sie sind die Brandstifter von heute und Gift für unsere Demokratie“, sagt er und erhielt dafür spontanen Applaus aus dem Auditorium.

Das Zeitzeugengespräch an der Bonhoeffer-Schule war Ivar Buterfas-Frankenthals 1565. Auftritt gegen das Vergessen in den vergangenen 30 Jahren. Bis zum 16. Dezember sind noch 15 weitere Veranstaltungen geplant. Langsam fordere das Alter aber seinen Tribut, sagt er, weshalb er im nächsten Jahr seine öffentlichen Auftritte beenden wolle. Was er den Nachgeborenen hinterlassen will, hat er aber in vier Büchern niedergeschrieben. Am heutigen Donnerstag, 16. November, sendet das ZDF zudem ein langes Gespräch von Markus Lanz mit ihm.