Oststeinbek. Laufsteg und Schärpe adé: Heute zählt bei dem einstigen Schönheitswettbewerb soziales Engagement. Wie Kathrin Erasmus punkten will.

Lange Beine, volle Lippen, glänzendes Haar: Noch vor ein paar Jahren wären das wohl die ersten Assoziationen zum Stichwort Miss Germany gewesen. 1927 ins Leben gerufen, ging es in dem Wettbewerb lange um das Aussehen der Teilnehmerinnen. Wer einen vollen Busen, symmetrische Gesichtszüge oder einen flachen Bauch hatte, hatte gute Karten.

Doch: Oberflächlichkeit war gestern. Seit 2019 kommt die Wahl zur Miss Germany im neuen Gewand daher. Das Unternehmen hinter dem Wettbewerb, die Miss Germany Studios mit Sitz in Oldenburg, will weg vom Image eines klassischen Schönheitswettbewerbs. Gefragt sind stattdessen Frauen, die Verantwortung übernehmen, sich sozial engagieren, die Welt zum Guten verändern wollen.

Kathrin Erasmus aus Oststeinbek will Miss Germany werden

Eine von ihnen ist Kathrin Erasmus. Die Oststeinbekerin hat es unter die letzten 20 von 15.000 Bewerberinnen geschafft und steht damit im Halbfinale des Wettbewerbs. Das Herzensthema der 36-Jährigen lautet: mentale Gesundheit. Sie möchte psychische Krankheiten enttabuisieren und Betroffenen zu mehr Unterstützung verhelfen. „In einer Welt, die sich ständig wandelt und in der der Druck, perfekt zu sein, ständig zunimmt, ist die mentale Gesundheit wichtiger denn je“, sagt sie.

Die gebürtige Hamburgerin weiß, wovon sie spricht. Jahrelang litt sie selbst an Depressionen. Es war 2012, als sie zum ersten Mal merkte, dass mit ihr etwas nicht stimmte. „Es fühlte sich an, als ob ein bleierner Schleier über mir lag“, sagt sie. Die einfachsten Dinge fielen ihr schwer. „Ich hatte kaum Energie, um aus dem Bett zu kommen oder zu duschen.“ Sie litt unter Schlafstörungen und Appetitlosigkeit, Kleinigkeiten brachten sie aus der Fassung. Erasmus: „Wenn mir ein Löffel heruntergefallen ist, hätte ich weinen können.“

Die Kandidatin möchte psychische Krankheiten enttabuisieren

Weil so wenig über psychische Erkrankungen gesprochen wurde, konnte sie damals nicht benennen, was mit ihr los war, erkannte nicht, dass sie professionelle Hilfe brauchte. Erst drei Jahre später, 2015, suchte sie einen Arzt auf, der eine Depression diagnostizierte. Damals wohnte Kathrin Erasmus in Kapstadt. Nach ihrem Schulabschluss studierte sie in Hamburg Kommunikationsdesign und arbeitete bei einer Filmproduktion, bevor sie in den Bereich Personalbeschaffung ging. Heute arbeitet sie in Teilzeit in einem Unternehmen und ist selbstständig als Recruiterin tätig.

Nach der Diagnose begann Erasmus mit Achtsamkeitstraining. „Das hat mir sehr geholfen“, sagt sie. Sie besuchte MBSR-Kurse. Die Abkürzung steht für Mindfulness Based Stress Reduction, also Stressreduktion durch Achtsamkeit. Der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn entwickelte die Methode vor mehr als 30 Jahren an der University of Massachusetts auf der Grundlage der buddhistischen Achtsamkeitsmeditation. „Bei den Kursen habe ich Menschen kennengelernt, denen es so ging wie mir. Dadurch habe ich mich nicht mehr so allein und unnormal gefühlt“, sagt die Oststeinbekerin.

Achtsamkeit half Kathrin Erasmus im Kampf gegen ihre Depression

Nach und nach kämpfte sie sich aus dem tiefen Loch, in dem sie steckte, heraus. „Achtsamkeit, Meditation und Yoga haben bei mir viel zum Positiven verändert“, sagt sie. Die Techniken halfen ihr, sich selbst und ihre Gedanken nicht zu verurteilen, besser zu schlafen und sich weniger gestresst zu fühlen. Heute meditiert die 36-Jährige jeden Morgen, hat eine Ausbildung zur Achtsamkeitstrainerin begonnen.

Was ihr außerdem geholfen hat: „Die Liebe von meinem Mann“, sagt sie. In Südafrika lernte sie ihren Partner kennen. 2020 kam das Paar mit zwei Katzen im Gepäck zurück nach Deutschland. Auch Sport und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Depression taten ihr gut. „Ich habe viele Bücher gelesen und bilde mich ständig weiter“, sagt Kathrin Erasmus.

Der Tod ihres Vaters riss ihr den Boden unter den Füßen weg

Obgleich sie in den Jahren nach der Diagnose viele Fortschritte gemacht hat – sie bewahrten sie nicht davor, im vergangenen Jahr erneut in eine schwere Krise zu stürzen. „2022 war psychisch ein sehr hartes Jahr“, sagt sie. Erasmus schlitterte in einen Burnout, ging deshalb in eine psychiatrische Tagesklinik. Doch: „Kurz darauf verstarb mein Vater“, sagt sie. „Ich war auf dem Weg der Heilung und dann hat mir das den Boden unter den Füßen weggerissen.“

Damals erlebte sie erneut, dass sich im Umgang mit Depressionen in der Gesellschaft dringend etwas ändern muss. Vor allem die Arbeitswelt erlebte sie als gnadenlos. Erasmus: „Es herrscht oft die Mentalität: Nur die Harten kommen in den Garten.“ Ihrem damaligen Arbeitgeber gefiel nicht, dass sie auf der Plattform Linkedin öffentlich über den Tod ihres Vaters und mentale Gesundheit sprach. Es wurde ein Meeting einberufen, in dem der Chef sein Missfallen kundtat, zwei Wochen später kam die Kündigung.

Als Miss Germany möchte sie ein noch größeres Publikum erreichen

Erlebnisse wie diese motivieren sie heute, ihre Stimme zu erheben. „Ich möchte, dass es normal wird, über psychische Krankheiten zu sprechen“, sagt sie. Erasmus möchte Vorurteile abbauen und macht sich für einen offenen Dialog in der Gesellschaft stark. Auf Linkedin hat sie eine Gruppe zu dem Thema ins Leben gerufen, verschickt ehrenamtlich Newsletter, macht einen Podcast, bietet Webinare an.

Im Mai entschied sie, sich für die Wahl zur Miss Germany zu bewerben, um noch mehr Menschen im Kampf gegen die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen zu erreichen. Vorurteile gegenüber dem einstigen Schönheitswettbewerb habe sie keine gehabt. „Das veränderte Konzept gefällt mir sehr“, sagt sie. „Man merkt, dass das Unternehmen bereit zum Wandel ist und den Fokus auf wichtige Themen lenkt.“

Kathrin Erasmus setze sich unter 15.000 Bewerberinnen durch und ist in den Top 20

Im Oktober kamen in München die Top 40 zusammen. Kathrin Erasmus und ihre Mitbewerberinnen stellten ihre Mission in Diskussionsrunden vor Publikum vor. Die Oststeinbekerin überzeugte und steht nun im Halbfinale, das im Dezember in Berlin stattfindet. Dann qualifizieren sich die zehn besten Kandidatinnen für das Finale im Februar in der Europa-Park Arena in Rust.

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Unter den Top 20 sind auch zwei Hamburgerinnen: Vanessa Reder kämpft gegen die Verschmutzung der Ostsee, die als das am stärksten verunreinigte Gewässer der Welt gilt. Sexualberaterin Mignon Kowollik will Liebe, Sexualität und Intimität ins Bewusstsein rücken und gegen die digitale Isolation angehen. Ihr Ansatz berücksichtigt die Vielfalt menschlicher Sexualität und hinterfragt gesellschaftliche Vorurteile. „Es war sehr inspirierend, die anderen Kandidatinnen kennenzulernen“, sagt Kathrin Erasmus. „Es sind alles so tolle Frauen, die sich für wichtige Themen einsetzen.“

Selbst, wenn es nicht für den Titel reichen sollte, habe die Erfahrung ihr Leben bereichert. Das heißt aber nicht, dass sie nicht trotzdem gewinnen möchte. „Ich möchte aus tiefstem Herzen Miss Germany werden und das Preisgeld einsetzen, um meine Ideen in die Tat umzusetzen“, sagt sie. Davon hat die Oststeinbekerin nämlich einige. Erasmus: „Ich möchte zum Beispiel in Schulen und Unternehmen gehen, um das Thema mentale Gesundheit in die Mitte der Gesellschaft zu rücken.“