Bargteheide. Mehr als 280 Besucher verfolgten gespannt die Veranstaltung im Kleinen Theater, die von Schülern moderiert wurde
Wie war es in den Jahren des Dritten Reichs in Bargteheide wirklich? Stimmt, was in alten und neuen Geschichtsbüchern darüber geschrieben steht? Oder haben es die Menschen, die damals im Ort lebten, ganz anders erlebt? Das interessierte offenbar nicht nur die Oberstufenschüler des Geschichtsprofils der Klassen 12a und 13d an der Anne-Frank-Schule, sondern auch mehr als 280 Besucher des Kleinen Theaters. „Das hatte etwas von einem großen Klassentreffen verschiedener Generationen und zeigt, wie interessant und spannend dieses geschichtsträchtige Thema noch immer ist“, sagt Historikerin Ruth Kastner, Initiatorin des Abends und Mitglied der Geschichtswerkstatt, die die Veranstaltung organisiert hat.
Dorf war bekannt für seinen Vieh- und Pferdemarkt
Auf der Bühne saßen mit Luise Hemsen (Jahrgang 1932), Gerda Lohse (Jahrgang 1936) und Klaus Andresen (Jahrgang 1931) drei Zeitzeugen, sowie mit Detlef Jentsch, Jonny Fahrenkrog und Detlef Höppner drei weitere im Auditorium, deren Berichte als Videoclips eingespielt wurden. Befragt wurden sie von der 19-jährigen Hannah Zorn und dem 18-Jährigen Jonas Bewig.
Zur Einführung vermittelte Birgit Gartenschläger von der Geschichtswerkstatt einige Zahlen und Daten zu Bargteheide, dass in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch ein landwirtschaftlich geprägtes Dorf mit 17 Höfen und Dutzenden Handwerksbetrieben war. „Zu dieser Zeit war Bargteheide bekannt für seinen Kram-, Vieh- und Pferdemarkt“, so Gartenschläger.
NSDAP holte 1932 absolute Mehrheit in Bargteheide
Mit der Beschaulichkeit war es aber bereits im Sommer 1914 vorbei. Von den damals 2400 Einwohnern mussten 288 in den Ersten Weltkrieg ziehen. 104 starben auf den Schlachtfeldern in Frankreich. Mit der Niederlage 1918 änderte sich zugleich die Parteienlandschaft. Nationalsozialisten und Deutschnationale sicherten sich mehr Einfluss, auch in Bargteheide.
Bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 holte die NSDAP mit 56 Prozent die absolute Mehrheit und stellte bei der Gemeindewahl auch die stärkste Fraktion. Mit dem Gleichschaltungsgesetz wurden alle anderen Parteien im März 1933 aufgelöst und verboten. Bargteheide zeigte seine Verbundenheit mit dem Führer ganz offen: Die Bahnhofstraße wurde in Adolf-Hitler-Straße umbenannt und am Markt eine Hitler-Eiche gepflanzt.
Die Jungen mit Zeltlagern und Ausfahrten gelockt
Für die Jungen und Mädchen des Ortes waren fortan Hitlerjugend (HJ) und der Bund deutscher Mädchen (BDM) die einzig erlaubten Organisationen. 1937 kam es in der Jersbeker Straße 20 zum Bau eines Heims für die Hitlerjugend, von vielen Bewohnern nur „das braune Haus“ genannt.
„Ich und meine Schulkameraden waren oft dort“, berichtete Detlef Jentsch in einer Videosequenz. Man habe die Kinder mit Ausfahrten, Zeltlagern, großen Feiern und Fackelzügen gelockt. „Ich kann es nicht anders sagen, aber wir waren begeisterte Pimpfe. Wir bauten Zelte, sogenannte Dackelgaragen, spielten und sangen und hatten unseren Spaß“, so Jentsch.
Jüdische Familien und deren Kinder wurden schikaniert
Allerdings nicht die Kinder der drei jüdischen Familien in Bargteheide. „Sie wurden wie ihre nichtarischen Eltern systematisch schikaniert: Sie durften nicht in die Badeanstalt, keine weiterführenden Schulen und auch keine öffentlichen Veranstaltungen besuchen“, erinnert sich Klaus Andresen. Auch der Nachbarsjunge Josef Kohn sei davon betroffen gewesen, so der 91-Jährige, dessen Vater 1933 den stadtbekannten Gartenbaubetrieb mit Baumschule gründete.
Wie sich das gesamte Klima im Ort verändert habe, ist Luise Hemsen noch lebhaft in Erinnerung. Sie wurde 1932 als jüngste von drei Töchtern in die Kaufmannsfamilie Pöhlsen geboren, die ein Lebensmittelgeschäft in der Jersbeker Straße betrieb. Beim Betreten von Geschäften Guten Tag zu sagen, sei schon bald verpönt gewesen. „Da wurde man oft mit spitzem Mund darauf hingewiesen, dass es jetzt Heil Hitler heiße“, erzählt Hemsen. Zudem sei immer öfter der Hitlergruß, also das Ausstrecken des rechten Arms, eingefordert worden.
720 Männer starben auf den Schlachtfeldern
Laut Andresen wurde bald auch dem Letzten klar, dass all die gut organisierte Propaganda und Indoktrination nur dazu dienten, das Volk auf einen weiteren Waffengang einzustimmen. „In Wochenschaufilmen, Vorträgen von Offizieren in der Schule und Radioansprachen von Propagandaminister Joseph Goebbels wurde unverhohlen für den Krieg geworben“, so Andresen.
Der brach dann mit dem Überfall auf das benachbarte Polen am 1. September 1939 über die Völker Europas herein. Viele Männer der Jahrgänge 1900 bis 1927 aus Bargteheide und Umgebung wurden zur Wehrmacht eingezogen, 720 starben auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs. Daheim gehörten fortan Rationierungen und Bezugsscheinpflicht für viele Lebensmittel zum Alltag. Und die örtliche Feuerwehr bestand fast vollständig aus 18- bis 20-jährigen Bauerntöchtern.
1000 Flugzeuge donnerten über Bargteheide hinweg
Doch nur vier Jahre später kehrte der Krieg zurück nach Deutschland. Im August 1943 donnerten 1000 Flugzeuge der Alliierten über Bargteheide hinweg nach Hamburg, um dort ihre zerstörerische Bombenlast abzuwerfen. „Der Himmel im Westen war blutrot, es regnete Asche und wir hatten schreckliche Angst“, berichtet Detlef Höppner in einer weiteren Videosequenz.
Überall seien in kürzester Zeit Bunker gebaut worden. Wer keinen sicheren Keller im Haus hatte, hob Gruben aus und deckte diese mit Holzstämmen und viel Erde ab. „Wir Jungs haben Unterstände und Verstecke in den Knicks der Feldmark gebaut, weil die Engländer angekündigt hatten, auch Bargteheide bombardieren zu wollen“, sagt Höppner.
Geschosse der Bordgeschütze pflügten durch den Garten
So kam es dann auch. „Wir wohnten damals nur 300 Meter vom Bahnhof entfernt, der immer wieder Ziel von Tiefflieger-Angriffen war. Die Geschosse der Bordgeschütze pflügten mehrfach auch durch unseren Garten“, erinnert sich Klaus Andresen. Die letzten Kriegswochen habe die Familie daher ausschließlich im Keller gelebt.
Am 3. Mai 1945 wurde Bargteheide ohne jeden Widerstand von englischen Truppen besetzt. Die Kontrolle übernahm dann das schottische Bataillon Scottish Rifles. „Sie requirierten ein Schuhgeschäft und die Apotheke und durchsuchten jedes Haus nach Hitlers Buch ,Mein Kampf‘, Fotos und Uniformen“, berichtet Luise Hemsen. Und sie hielten jeden Tag auf dem Markt einen Appell mit Dudelsackmusik ab. „Das hat mir gar nicht gefallen“, gestand die 90-Jährige.
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„Das war ein sehr authentischer Einblick in die Zeit des Dritten Reichs und eine lebendige Ergänzung des Geschichtsunterrichts“, zog Moderator Jonas Bewig ein persönliches Fazit des Abends. Es sei enorm wichtig, Zeitzeugen aufmerksam zuzuhören, solange sie noch leben. Weil nur so ein Bewusstsein für die eigene Geschichte erwachsen könne.
Gerda Lohse, selbst Flüchtlingskind aus Ostpreußen, hatte das Gespräch auf dem Podium zuvor mit einem eindringlichen Appell im Hinblick auf den Umgang mit den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine beendet. „Aus unseren eigenen Erfahrungen heraus, sollten wir alle Menschen gleich behandeln, unabhängig von ihrem Kopf und ihrem Portemonnaie“, so ihr Aufruf, der mit starkem Applaus aus dem Auditorium bedacht worden war.
Am Mittwoch, 25. Januar, trifft sich die Geschichtswerkstatt um 18 Uh zu ihrer nächsten Sitzung im Stadthaus. Gäste sind willkommen.