Lütjensee. Valeria Hapiienko bricht in Kiew zu einer Tour aufs Land auf. Eine Woche später kommt sie bei Familie Tietjen in Lütjensee an.
Am Donnerstag, 24. Februar, greifen russische Truppen die Ukraine an. Frühmorgens bekommt Valeria Hapiienko (43) in Kiew einen Anruf von ihrem Mann, der beim Militär tätig ist. Er rät ihr, langsam und ohne Panik wichtige Papiere und Kleidung zu packen und sich mit den gemeinsamen Kindern Mark (7) und Margarita (16) auf den Weg raus aus der Stadt zu machen. Valeria packt zwei kleine Handkoffer mit dem Nötigsten. Für ein paar Tage aufs Land fahren, abwarten, so lautet der Plan. Valeria Hapiienko sagt: „Ich habe zu keinem Zeitpunkt gedacht, dass wir weglaufen.“
Krieg gegen Ukraine: Menschen müssen Angst um ihr Leben haben
Unterwegs sehen sie, dass sich vor den Tankstellen kilometerlange Schlangen gebildet haben. Glücklicherweise stellt sich heraus, dass die Ausfahrt aus Kiew nicht – wie befürchtet – blockiert ist. Die Nacht verbringen sie bei Bekannten. Es ist ruhig, alles scheint friedlich.
In Lütjensee verfolgt derweil Piotr Staczek die Nachrichten aus der Ukraine. „Der Angriffskrieg hat eine Tragödie in Gang gesetzt“, sagt der 43-Jährige Deutsche mit südpolnischen Wurzeln. Den Ex-Fußballprofi des FC St. Pauli, der eine zweite Karriere als Kampfsportler hingelegt hat, berührt das Schicksal der Menschen, die plötzlich aus dem Alltag gerissen werden und um Leib und Leben fürchten müssen. Durch berufliche und sportliche Kontakte ist er gut vernetzt, das will er nutzen.
Hapiienkos Mann traf die Entscheidung zur Flucht
Freunde und Bekannte von Valeria Hapiienko organisieren derweil einen Autokonvoi Richtung Slowakei. „Ich wollte nicht weg“, sagt die Ukrainerin. „Hätte ich keine Kinder, wäre ich geblieben.“ Sie habe keinen klaren Gedanken fassen könne, ihr Mann habe die Entscheidung zur Flucht getroffen. Am Freitag machen sich 19 Menschen, darunter zehn Kinder, auf den Weg. Hapiienkos Mann ist nicht dabei. Sie wechselt sich mit einem Freund am Steuer ab.
Sie fahren zwei Tage durch, müssen unterwegs wegen eines Unfalls zwei Autos bei einer Werkstatt zurücklassen, verteilen die Insassen auf die restlichen Pkw. Einmal, als sie schläft, sieht ihr Mitfahrer, wie ein Flugzeug etwas abwirft, es sieht aus wie viele Pakete, aber es gibt keine Explosionen. Ein anderes Mal ertönt Alarm aus dem Radio, als sie gerade durch Felder fahren. Der Freund beruhigt sie. „Er hat gesagt, auf freiem Feld zu bombardieren ist uninteressant.“
Ständig treffen Nachrichten auf ihrem Telefon ein
Rast machen sie an Tankstellen. Die kleineren Kinder hätten keine Angst gehabt, sähen das Ganze eher als Abenteuer. „Für sie war die Fahrt okay, sie konnten nur nicht so gut schlafen“, berichtet Hapiienko. „Sie können das alles ja nicht begreifen und hoffen einfach, dass sie nach Hause zurückkommen.“ Bei den drei Ältesten sei das anders, sie könnten das Geschehen in den sozialen Netzen mitverfolgen. „Eigentlich war eher ich nervös, hatte Angst und Stress.“ Sie habe viel geweint, ihre Tochter Margarita habe sie getröstet.
Während sie erzählt, treffen fast im Minutentakt Nachrichten auf ihrem Smartphone ein. Sie wartet sehnlichst auf Nachricht von Mutter und Schwester, die in der Nähe von Kiew leben. Am frühen Morgen haben sie sich mit zwei Kindern und Katze auf den Weg in die Westukraine gemacht. Seitdem hat sie nichts mehr von ihnen gehört.
Piotr Staczek nimmt Kontakt zu Unterstützern auf
Während der zwei Tage und Nächte habe die Gruppe rund 700 Kilometer zurückgelegt, setzt sie ihren Bericht fort. Es geht langsam vorwärts, viele nehmen den Weg gen Westen. In der Stadt Saljawa hat ein Bekannter aus Dresden ein Haus, dort kommen sie unter. Zwei Tage bleiben sie, recherchieren im Internet.
Zur selben Zeit hat Piotr Staczek Kontakt zu einer polnischen Community aus Hamburg aufgenommen, die Busfahrten an die Grenze und zu Verteilzentren organisiert. Er setzt eine Flut von Nachrichten in Gang, um auch im Kreis Stormarn Unterkünfte für die Ankommenden zu organisieren.
An Grenze müssen die Familien Abschied nehmen
Die Gruppe in der Ukraine hat inzwischen entschieden, Richtung Slowakei aufzubrechen. Sie hat Glück: An dem kleinen Grenzübergang, der mehr einem Fußweg als einer Straße gleicht, stehen erst wenige Menschen an. Der Abschied von den Männern ist kurz, aber emotional, es fließen Tränen. Die Männer müssen umkehren, für die Freiheit ihres Landes kämpfen. Ob und wann sich die Familien wiedersehen ist ungewiss.
Die Autos müssen zurückbleiben. Für die fünf Frauen und zehn Kinder geht es zu Fuß weiter. 20 Minuten sind es bis zur slowakischen Grenze, dort warten Snacks und eine warme Suppe auf die Ankömmlinge. Zwei Stunden später sitzen sie im Bus nach Michalovce, von dort aus geht es nach fünf Stunden später mit dem Zug nach Bratislava, dann Umsteigen nach Prag. Bei ihrer Ankunft hat die Kantine für Geflüchtete geschlossen. In einem Supermarkt kaufen sie Würstchen und Joghurts. „Wir wollten in Prag übernachten, aber haben keine Hilfe gefunden“, sagt Hapiienko. Sie nehmen stattdessen den Zug nach Hamburg. Am Dienstag, 1. März, kommen sie in Harburg an.
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Gastgeber haben nicht viel Zeit zur Vorbereitung
Am selben Abend ploppt auf dem Smartphone der Lütjenseerin Anna Tietjen eine Nachricht aus einer Whatsapp-Gruppe auf: 15 Ukrainer suchen Aufenthaltsmöglichkeiten, heißt es dort. Anna und Markus Tietjen beschließen, ein Zimmer mit Bad zur Verfügung zu stellen, das sonst als Gästezimmer und Homeoffice genutzt wird. Am Mittwoch bekommt Anna Tietjen die Kontaktdaten von Staczek und fragt ihn nach Details.
Derweil wartet Hapiienko darauf, wie es weitergeht. Die Familie ist kurzfristig bei einer Ukrainerin untergekommen, die bald geflüchtete Verwandte aus Charkiw erwartet und den Platz braucht. Als Staczek die Familie am Donnerstag abholt, hat Hapiienko keine Ahnung, was sie erwartet. In den Stunden vor ihrer Ankunft bereitet Anna Tietjen in Windeseile alles vor. Sie will es den Gästen so angenehm wie möglich machen.
Krieg gegen Ukraine: Das Wichtigste nach der Ankunft ist das WLAN-Passwort
Anna Tietjen sagt: „Ich habe überlegt, was bräuchte ich in derselben Situation, um mich einigermaßen wohl zu fühlen.“ Ihr Sohn malt ein Willkommensplakat, ihr Mann erledigt den Einkauf. Spielzeug und Malsachen liegen bereit. Gleich nach der Begrüßung bekommt Hapiienko das WLAN-Passwort, dann ziehen sich die Gäste in ihr Zimmer zurück. Die Privatsphäre sei wichtig, sagt Tietjen. Die Verständigung auf Englisch klappe gut. Wie es weitergehe, werde sich nächste Woche zeigen.
Piotr Staczek sagt: „Ich möchte, dass die Geflüchteten hier eingebunden werden, die Kinder brauchen ein intaktes Umfeld.“ Hapiienko kämpft mit den Tränen, als sie ihrer Dankbarkeit in Worte fasst: „Vielen Dank, dass wir uns hier sicher fühlen können.“ Und weiter: „Ich wünsche allen Menschen Frieden.“