Barsbüttel. Klaus-Peter Leiste half 1962 mit dem Jugendrotkreuz. Donnerstag spricht er als Zeitzeuge der Sturmflut auf einer Veranstaltung.

An diesem Donnerstag ist Klaus-Peter Leiste von der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung ins gleichnamige Gymnasium in Hamburg-Wilhelmsburg geladen zu einer Hybrid-Veranstaltung. Dann wird der Rentner aus dem Barsbütteler Ortsteil Willinghusen zum ersten Mal bei so einem Format über seine Erlebnisse vor 60 Jahren sprechen – als Zeitzeuge der Sturmflutkatastrophe in Hamburg, bei der 315 Menschen starben und mehrere Tausend obdachlos wurden. Der inzwischen 76-Jährige war mittendrin, agierte als Helfer des Jugendrotkreuzes (JRK).

Auf seinem Wohnzimmertisch liegen Zeitungsartikel über das, was in der Nacht vom 16. auf den 17. Februar und an den folgenden Tagen geschah. Auch Bücher zu dem Thema hat Leiste griffbereit. Er hat noch alles vor Augen, sagt: „Die Deichbrüche, die Wassermassen, das Elend. Es war erschreckend und zugleich belastend.“ Vier Tage war er damals als Jugendlicher im Einsatz an verschiedenen Standorten.

Erster Einsatz war das Beladen von Hubschraubern im Jenischpark

Leiste ist noch Schüler und wohnt seinerzeit in Blankenese. 1961 tritt er der Jugend-Abteilung des Deutschen Roten Kreuzes bei, macht seine Grundausbildung samt Erste-Hilfe-Kursus. In jenem Jahr ist er bei Übungen mit dem THW in den Rissener Kiesgruben und wird bei Spielen des HSV im Volksparkstadion eingesetzt. Das macht dem Jungen Spaß und verlangt ihm nicht allzu viel ab. Im Gegensatz zu dem, was er an den besagten Tagen leistet.

Ein Bild aus dem Jahr 1962: Klaus-Peter Leiste (Mitte) mit Freunden.
Ein Bild aus dem Jahr 1962: Klaus-Peter Leiste (Mitte) mit Freunden. © Privat

Als in der Nacht zum 17. Februar Deiche brechen, die Kraftwerke Wedel, Schulau, Harburg und Neuhof überfluten und in weiten Teilen Hamburgs der Strom ausfällt, schläft Leiste. Am nächsten Morgen geht er noch zur Schule, fährt mittags dann zu seinem Jugendwart. Der ist aber bereits in Wilhelmsburg und hilft. „Seine Mutter hat mich dann in den Jenischpark geschickt“, sagt Leiste. Die Strecke legt er mit dem Rad zurück. Dort angekommen, wird er eingeteilt, um die Hubschrauber und Lastwagen zu beladen. „Wir haben vor allem Wolldecken eingepackt, Campingkocher, Brot und Kartoffeln sowie Trinkwasser in großen Kanistern.“ Das macht er bis in den Abend hinein. „Zuhause habe ich meiner Mutter noch kurz über das Erlebte erzählt, bin dann sofort eingeschlafen. Ich war total erschöpft.“

Als es wieder hell wird, macht sich der 16-Jährige wieder auf zum heute unter Denkmalschutz stehenden Park. Fortan fliegt Leiste mit in den Hubschraubern. „Das waren deutsche und amerikanische mit zum Teil zwei Rotorblättern, einfach imposant.“ Seine Einsatzgebiete sind Cranz und Neuenfelde. Aus der Luft sieht Leiste die gebrochenen Deiche. „Häuser haben wie Inseln aus dem Wasser herausgeragt, alles war abgesoffen.“ Er und seine Mitstreiter werfen Lebensmittel auf Flachdächer von Gebäuden und auf Deiche ab, landen an einigen Stellen. Er nennt diese Stützpunkte. Auf dem Rückweg nehmen sie Menschen mit, bringen Kinder und Erwachsene in Sicherheit. „Wir haben auch eine tote Person transportiert“, erzählt der Barsbütteler. Die sei in eine Decke eingewickelt und für ihn nicht sichtbar gewesen. Leiste berichtet von ertrunkenen Tieren, das Vieh sei von den Landwirten aufgetürmt worden.

2021 wurde Leiste mit dem Ehrenpreis der Gemeinde Barsbüttel ausgezeichnet

Der Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg steht nach der Sturmflut unter Wasser.
Der Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg steht nach der Sturmflut unter Wasser. © dpa | Gerd Herold

Ob er über den Tag Nahrung zu sich genommen hat, daran kann er sich nicht mehr erinnern. Wohl aber, wie er von Menschen umarmt wurde, denen er Brot reichte. „Und ich weiß, dass ich nicht gefroren habe, obwohl wir damals keine Ausrüstung hatten wie zum Beispiel heute die Jugendfeuerwehren.“ Leiste trägt damals eine Jeans, Anorak, Pullover, Gummistiefel und Wollhandschuhe. Drei Tage ist der Jugendliche mit dem Helikopter unterwegs, wird für seinen Einsatz von der Schule freigestellt. Er sagt: „Was ich erlebt habe, war mitunter herzzerreißend. Das Helfen stand in dieser Zeit an erster Stelle.“ Alles andere habe er ausgeblendet.

Klaus-Peter Leiste, der früher zur See gefahren ist und schließlich Hauptkommissar bei der Wasserschutzpolizei wurde, engagiert sich bis heute ehrenamtlich. So gehört er dem Vorstand des Willinghusener Bürgervereins an, war eine Zeit lang SPD-Gemeindevertreter und organisierte mit Gleichgesinnten unter anderem die 777-Jahr-Feier Willinghusens 2015. Im vergangenen Jahr zeichnete ihn die Gemeinde Barsbüttel mit dem Ehrenpreis aus.

Mit seinem Ausbilder beim Jugendrotkreuz, Klaus-Peter Behrens, hat er immer noch Kontakt. Der wird in Wilhelmsburg am Donnerstag nicht zugegen sein. Bei der Veranstaltung mit dem Namen „Zurück in die Gegenwart: 60 Jahre Hamburger Sturmflut“ ist Jürgen Karsch neben Leiste zweiter Zeitzeuge. Beginn ist um 18 Uhr. Interessierte gelangen über die Internetseite der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung (www.helmut-schmidt.de) auf den Livestream.