Reinbek. Drogendelikte in Stormarn auf Höchststand. Therapeut Jan Oelkers über Dealer-Netzwerke und die regionale Drogenszene.

Laut einer aktuellen Kriminalstatistik haben die im Kreis Stormarn aktenkundig gewordenen Drogendelikte im Vorjahr mit 729 einen neuen Höchststand erreicht. Damit einhergegangen ist auch ein verstärkter Beratungs- und Therapiebedarf. Jan Oelkers von der Südstormarner Vereinigung für Sozialarbeit (SVS) mit Sitz in Reinbek ist ein profunder Kenner der Szene.

Das Abendblatt sprach mit dem 54 Jahre alten Suchttherapeuten über flexible Dealer-Netzwerke, den Einfluss der Corona-Pandemie, die harte Droge Alkohol und den Irrglauben, Cannabis sei vergleichsweise harmlos.

Spiegeln die Zahlen der Kriminalstatistik den realen Missbrauch auch nur annähernd wider?

Jan Oelkers Sicher nicht. Häufig wird der Missbrauch doch gar nicht erkannt. Wir unterscheiden hier zum einen mehrere Gruppen von Konsumenten, zum anderen mehrere Gruppen von Dealern. So gibt es Gelegenheitskonsumenten, die nur unregelmäßig in Kontakt mit Drogen kommen, etwa bei Partys, in der Disco oder bei privaten Feiern. Dann notorische Konsumenten, die bereits regelmäßig zu Drogen greifen, und schließlich Abhängige, die praktisch gar nicht mehr ohne Suchtmittel auskommen. Beim Handel gibt es die Dealer, die Suchtmittel in größeren Mengen ordern, sogenannte Läufer, die kleinere Einheiten auf eigene Rechnung weiterverkaufen und Kleindealer, die vor allem Cannabis vertreiben, um damit den eigenen Bedarf zu finanzieren.

Dann haben wir es hier also mit einem sehr dynamischen Geschehen zu tun, das nicht klar abgrenzbar ist?

So ist es. Solche Strukturen aufzubrechen, ist äußerst schwierig. Die Dealer bedienen sich gut organisierter, flexibler Netzwerke, die nicht mehr nur auf Städte begrenzt sind. Der ländliche Raum ist längst kein geschützter Raum mehr. Mittlerweile bringen Drogentaxis den Stoff bis ins kleinste Dorf.

Stellt die Nähe zur Hansestadt Hamburg und deren ausgeprägter Drogenszene einen besonderen Faktor dar?

Das ist eine regionale Besonderheit, die natürlich Einfluss hat, etwa hinsichtlich der Verfügbarkeit der Suchtmittel. In Süddeutschland, an der Grenze zu Tschechien, floriert zum Beispiel der Handel mit verschiedenen Methamphetaminen wie Crystal Meth und Partydrogen aller Art, den wir in Norddeutschland so eher nicht haben.

Insider sagen aber, man könne auch hier alles ordern, was der Markt zu bieten habe.

Daran habe ich keinen Zweifel.

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Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter ist der Ansicht, es müsse breit diskutiert werden, ob das Land mit seiner aktuellen Drogenpolitik gut aufgestellt sei. Hat er recht?

Bekanntlich gibt es in ganz Stormarn nur drei kriminalpolizeiliche Abteilungen mit je einem Drogensachbearbeiter. Die personellen Ressourcen und die in diesem Bereich eingesetzten Mittel reichen meiner Ansicht nach bei Weitem nicht aus, um den Missbrauch spürbar und nachhaltig zu bekämpfen. In die Kriminalstatistik geht doch nur ein, was beim Konsum und Handel unmittelbar wahrgenommen wird. Ich weiß von Menschen aus der Region, die ihr Leben jahrelang und unbehelligt durch den Handel mit Kokain finanziert haben. Deshalb darf die Drogenpolitik schon hinterfragt werden.

Sind denn Suchtberatung und Therapie personell und finanziell hinreichend aufgestellt?

Ich denke, im Bereich der Prävention, des Hilfesystems und der Therapie sind wir momentan ganz gut aufgestellt. Jeder, der einen Beratungstermin wünscht, bekommt zeitnah, in der Regel binnen 14 Tagen, ein Gesprächsangebot. Der finanzielle Umfang darf allerdings nicht gekürzt werden, zum Beispiel durch gewisse Sparzwänge.

Hat die Corona-Pandemie die Suchtlage verschärft?

Wenn man weiß, dass wir im gesamten Vorjahr rund 330 Betroffene beraten haben und es im ersten Halbjahr dieses Jahres bereits 220 waren, dann ist die Frage eindeutig zu bejahen. Die soziale Distanz infolge der Pandemie, die Angst um den Arbeitsplatz und familiäre Spannungen durch Homeoffice und Homeschooling haben den Missbrauch von Suchtmitteln gefördert und die Gefahr des Abgleitens in eine Abhängigkeit erhöht. Ohnehin war schon 2020 ein sprunghafter Anstieg der Zahl an Beratungs- und Therapieleistungen um 20 Prozent zu verzeichnen.

Zieht jedes Erstgespräch therapeutische Maßnahmen nach sich?

Auf der einen Seite gibt es die fachliche Einschätzung des Beraters, auf der anderen die individuelle Wahrnehmung des Betroffenen. Die sind bei Weitem nicht immer deckungsgleich. Da ist bei zahlreichen Klienten auch ein hohes Maß an Ambivalenz im Spiel. Etwa dann, wenn der Hilfesuchende auf das Suchtmittel nicht wirklich verzichten will. Die Bereitschaft, sich auf eine Entwöhnung einzulassen, ist sehr unterschiedlich ausgeprägt.

Auch deshalb, weil Betroffene im Grunde ihr gesamtes Leben umkrempeln müssen?

Von der Akzeptanz eines Suchtproblems bis zu dessen Bewältigung ist es ein langer Weg. Dabei werden viele Bereiche des Lebens tangiert. Es geht darum, es so umzugestalten, dass man das Suchtmittel gar nicht mehr vermisst. Gezwungenermaßen und zähneknirschend darauf zu verzichten, ist wenig erfolgversprechend.

Neben Betäubungsmitteln spielt in der Suchtberatung Alkoholmissbrauch eine große Rolle.

Alkohol ist nach wie vor die Hauptdroge, weil die Schwelle zum Erwerb viel niedriger ist als bei anderen Suchtmitteln. Bei uns stammen 65 Prozent aller Klienten aus diesem Bereich, Betäubungsmittelfälle folgen mit etwa 25 Prozent und großem Abstand erst auf Rang zwei. Für mich ist auch Alkohol eine harte Droge, die nur aus kulturhistorischen Gründen zufällig legal und zutiefst in der Gesellschaft verankert ist. Wenn ich als Berater über das Thema Drogensucht spreche, denke ich Alkohol immer mit. Die künstliche Trennung ist überhaupt nicht angemessen, nur weil Alkohol faktisch jederzeit und überall erhältlich ist. Gerade das macht ihn umso gefährlicher.

Wird Alkohol in der Bevölkerung auch deshalb weniger kritisch gesehen, weil der Weg in die Abhängigkeit länger dauert?

Bei Opiaten und Heroin entsteht eine körperliche Abhängigkeit tatsächlich schneller und durch die Entzugserscheinungen ein größerer Konsumdruck. Bei Halluzinogenen wie LSD wächst vor allem das Risiko einer psychischen Erkrankung, weil die Rauschzustände viel intensiver und erschöpfender sind.

Wie sieht das beim Konsum von Cannabis aus? Ist Kiffen wirklich so harmlos, wie oft behauptet wird? Und sind Forderungen, vor allem der Grünen, nach einer kontrollierten Legalisierung wie in Kanada gerechtfertigt?

Cannabis hat ein ähnlich hohes Suchtpotenzial wie Alkohol und darf somit nicht als weiche Droge verharmlost werden. Auch hier ist das Risiko hoch, über die Gewöhnung psychisch abhängig zu werden. Das wird vor allem von der jugendlichen Kifferszene unterschätzt. Cannabis greift bei regelmäßigem Konsum in jungen Jahren stark in die Reifungsentwicklung des Gehirns ein.

Hat sich Cannabis auch qualitativ verändert?

Anders als vor 30, 40 Jahren stammt Cannabis heute zumeist aus illegalen Hochleistungsplantagen in Nordeuropa mit genmanipulierten Pflanzen und weist deshalb einen deutlich höheren Gehalt der psychoaktiven Substanz THC auf. Der Unterschied ist so gravierend, als würde ich beim Alkohol nicht mit Alsterwasser oder Weinschorle einsteigen, sondern gleich mit hochprozentigen Spirituosen wie Cognac und Schnaps.

Gibt es aus ihrer Wahrnehmung heraus neue Entwicklungen in der regionalen Drogenszene?

Der Kokainhandel hat in den vergangenen Jahren größere Ausmaße angenommen. Und auch Methamphetamine kommen immer stärker in Umlauf.

Werden ihre Klienten tendenziell jünger?

Eltern, die bei uns vorstellig werden, weil ihre 14- und 15-jährigen Kinder Kontakt mit Drogen haben, sind keine Einzelfälle mehr. Je früher der Einstieg bei Alkohol und Cannabis erfolgt, desto wahrscheinlicher sind Gewöhnung und Abhängigkeit. Die jüngste Betroffene in meiner Sprechstunde war ein zwölfjähriges Mädchen. Ebenso erschrocken hat mich aber auch eine 20-Jährige, die seit einem halben Jahr täglich eine Flasche Wodka trinkt. So etwas kann aber nur passieren, wenn das Umfeld wegschaut nach dem Motto, sehe ich das Böse, denke ich nicht hin.

Ist aus Ihrer Sicht die Prävention an den Schulen ausreichend?

Ich glaube, dass wir mit unseren Angeboten recht gut aufgestellt sind, wir stoßen aber mit unseren Personalkapazitäten manchmal an Grenzen. Präsenz-Elternabende an Grundschulen waren zum Beispiel weit weniger gut besucht als Videokonferenzen während der Corona-Pandemie. Allerdings wundere ich mich immer wieder, wenn Schulleiter behaupten, an ihrer Schule gäbe es keine Drogenprobleme. Das ist Quatsch! Weil es faktisch an jeder weiterführenden Schule Schüler gibt, die im Besitz von Drogen sind, selbst konsumieren, oder mit ihnen handeln. Vor allem in sozialen Brennpunkten, wie etwa in den Südstormarner Städten Reinbek und Glinde, aber eben auch in Gemeinden wie Trittau.

Ist das Thema inzwischen in der bürgerlichen Mitte angekommen?

Das ist längst der Fall. Wir hatten schon in zurückliegenden Jahren Angestellte, Selbstständige und sogar Führungskräfte in der Beratung, die nach außen hin erfolgreich im Leben stehen und trotzdem ein verstecktes Problem mit Alkohol oder anderen Drogen hatten. Es gibt recht viele Alkoholiker, denen man ihre Sucht kaum anmerkt, weil sie beruflich und familiär trotzdem noch funktionieren. Oft dauert es eben Jahre, bis sich Betroffene ihre Sucht eingestehen und dann endlich reagieren.