Ammersbek. Werner Zywietz aus Ammersbek kann seinen 80. Geburtstag nicht wie geplant mit Parteifreunden feiern. Termin fällt wegen Corona aus.
Der Plan für Sonnabend, 30. Mai, stand schon im vergangenen Jahr. „Da machen wir eine schöne Sause“, sagt Werner Zywietz über die Feier, die die FDP in Stormarn zum 80. Geburtstag ihres Ehrenvorsitzenden im Ammersbeker Pferdestall vorbereitet hatte. Die beiden liberalen Landesminister Bernd Buchholz und Heiner Garg hatten zugesagt, der stellvertretende Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki wollte vorbeischauen. Doch dann kam das Coronavirus – und das Fest wurde wie Hunderte andere Geburtstage, Hochzeiten und Konfirmationen im Kreis Stormarn abgesagt.
An seinem eigentlichen Geburtstag, am 21. Mai, saß Werner Zywietz mit den Familien seiner Söhne auf der Terrasse – mit Abstand, aber ohne seine aus Estland stammende Ehefrau Ülle. „Sie war beim Ausbruch der Krise in ihrer Heimat, seitdem gibt es keine Flüge mehr.“ Voraussichtlich komme sie erst im Juli.
Familie musste den Bauernhof in Ostpreußen zurücklassen
Den Pfingstsonnabend wollte er eigentlich mit seinen „drei Familien“ verbringen. Die erste ist die direkte Umgebung mit Frau, Söhnen, Schwester, Nachbarn und Sportkollegen aus früheren Zeiten. Zur zweiten Gruppe zählen der Rotary Club Ahrensburg, den Zywietz auch mal als Präsident leitete, und der erweiterte Freundeskreis. Der dritte Teil ist die Politik. „Jetzt machen wir es wie Olympia und feiern den 80. nächstes Jahr, wenn ich gesund bleibe.“
Dass er mit plötzlichen Veränderungen gut zurechtkommt, hat Werner Zywietz sein Leben lang bewiesen. Viereinhalb Jahre war er alt, als die Familie den rund 80 Hektar großen Bauernhof in Ostpreußen zurückließ. „Man konnte schon die Rote Armee hören, als unser Dorf Ende 1944 evakuiert wurde“, sagt er. Seinen Vater, der sein Leben an der Ostfront verlor, kannte er nur von drei Heimaturlauben. Die Schwester, die heute gut 100 Meter weiter wohnt, kam auf der Flucht im Januar 1945 in Pommern zur Welt. „Wegen der Schwangerschaft haben wir möglicherweise überlebt“, sagt er. Aus dem Grund durfte Mutter Zywietz mit ihren beiden Söhnen eher als andere gen Westen.
Vierköpfige Familie kam in einem Zimmer im Gasthaus unter
Das Ziel war Hamburg, wo die Familie ihres Bruders an der Schleuse in Poppenbüttel Timmermanns Gasthof führte. Für Werner Zywietz begann das neue Leben mit einer Ohrfeige. „Nach den langen Etappen bei bis zu minus 20 Grad Celsius hatten wir nicht mehr viel, ich trug drei Pullover übereinander und meinen Kinderrucksack.“ Der überfüllte Zug habe am Hauptbahnhof angehalten, alle drängelten zur offenen Tür. „Plötzlich ruckten die Waggons noch mal los, meine Tasche fiel auf die Gleise und wurde überrollt“, sagt Zywietz. „Jetzt ist der letzte Rest auch weg!“, habe seine Mutter gerufen – und die vorwurfsvollen Worte mit Taten bekräftigt.
Die vierköpfige Familie kam in einem Zimmer im Gasthaus unter, in dem die Mutter das Geld zum Überleben verdiente. „Aus Jugendsicht hatten wir damals die totale Freiheit, butscherten den ganzen Tag umher.“ Der kleine Werner war mit seinem vier Jahre älteren Bruder Erwin und dessen Freunden unterwegs. Mit trickreich wiederhergestellten S-Bahn-Karten erkundeten die Jungen die in Trümmern liegende Stadt, konnten bis nach Blankenese durchfahren. Englische Soldaten hätten die Kinder auch mal im Jeep mitgenommen, Schokolade und Kaugummi verteilt.
In der Schule wurden die Brüder als „Polacken“ beschimpft
„Als Bauerstochter wollte unsere Mutter wieder aufs Land“, sagt Zywietz. Das gelang 1949, als ihr eine kleine Holzhütte auf einem Grundstück am Tannenkoppelweg zugewiesen wurde. Auch dieser Umzug war für Werner Zywietz mit Schmerzen verbunden. Am ersten Tag in der Grundschule Bünningstedt wurden sein Bruder und er von den einheimischen Bauernsöhnen als „Polacken“ beschimpft, was in einer Rauferei endete. „Die anderen waren mehr, haben uns ordentlich verprügelt.“ Am nächsten Tag sei einer gekommen und habe „Nichts für ungut“ gesagt. „Damit war die Sache ausgeräumt und wir in der Gruppe drin.“
Der Gasthof der Familie Harms war damals das Zentrum des Dorflebens. „Mit dem Alten Dorfkrug bin ich groß geworden“, so Zywietz. Die Besitzer stellten eine Wiese als Fußballplatz zur Verfügung, das war für die Kinder die einzige Freizeitmöglichkeit. Noch heute hängt in der Kneipe ein Bild von Zywietz’ Mannschaft, die 1966 den Kreispokal gewann. „Wir waren schon eine besondere Dorftruppe, alle kamen aus der Gegend rund um Timmerhorn.“
Flüchtlingskind fuhr 17 Kilometer zur Schule mit dem Rad
In der vierten Klasse habe der Lehrer gefragt, wer zur weiterführenden Schule nach Ahrensburg wolle. Werner Zywietz vergaß, darüber mit seiner Mutter zu reden. Als der Mann die Entscheidungen abfragte, gaben mehrere Kinder die Schlossschule an. „Da habe ich unsere Zensuren verglichen und mich einfach bei Stormarnschule gemeldet.“ Mit dem Bestehen der Aufnahmeprüfung nahm das Leben die nächste Kurve.
Flüchtlingskind Zywietz schaffte das Gymnasium ohne Sitzenbleiben. „Ich hab’ mir immer gesagt: Pass auf, dass du nie zu den letzten drei in der Klasse gehörst.“ Den 17 Kilometer langen Schulweg legte er sechsmal die Woche mit seinem Kinderrad zurück. „Das war ein gutes Konditionstraining.“ Am Ende seien die Noten sogar immer besser geworden. Und so war er der Erste aus der Grundschule Bünningstedt, der in Ahrensburg Abitur machte.
Bei der Flutkatastrophe Menschen aus Lauben gerettet
Die größte Herausforderung im Wehrdienst war die Flutkatastrophe im Februar 1962: Gegen Mitternacht wurde Alarm ausgelöst, der Reserveoffizier rückte mit 48 Mann aus. Das Wasser kam ihnen schon zehn Kilometer vor dem Elbufer entgegen. „In einer überfluteten Laubenkolonie in Moorfleet standen Menschen auf der Tischen. Wir sind rein ins kalte Wasser und haben sie rausgezogen.“ Für wochenlangen Dauereinsatz an gebrochenen Deichen gab’s später eine Dankesmedaille von Helmut Schmidt.
1966 wurde Wirtschaftsstudent Zywietz für die FDP jüngster Kreistagsabgeordneter mit 25 Jahren, dem damaligen Mindestalter. Angebote habe es auch von anderen Seiten gegeben. „Du spielst doch Fußball, du gehörst in die SPD“ meinten die einen. In der CDU habe er bessere Chancen, warben andere. „Das Konservative war nicht meine Welt, aber das reine Verteilen auch nicht.“ Eigeninitiative sei ihm sehr wichtig. „Das ist wie beim Sport: Jeder muss selbst versuchen, besser zu werden, dann funktioniert auch das Team.“
Als Abgeordneter fand er Wiedervereinigung am spannendsten
In seiner Bundestagskarriere sei die Wiedervereinigung am spannendsten gewesen. Damals saß er im Haushalts- und später auch im Treuhandausschuss. „Ich hab nie in meinen Leben so hart gearbeitet wie in den vier Jahren nach der Einheit.“ Milliardenentscheidungen für Rentner und Firmen hätten ihm etliche schlaflose Nächte beschert. „Die deutsche Bevölkerung und auch die Politik kann stolz darauf sein, dass wir alles ohne militärische Auseinandersetzung in kurzer Zeit hinbekommen haben.“ Wobei er auch klar sagt: „Die Mauer ist vom Osten aus eingerissen worden.“
Nach dem Rückzug aus der Politik lernte Klassikliebhaber Zywietz 1999 bei einem Festival auf der Insel Usedom seine heutige Ehefrau kennen. Das Paar pendelt zwischen Ammersbek, ihrer Heimatstadt Tallinn und dem Kaiserbad Bansin auf Usedom. Dort ist eine aufwendig renovierte Villa mit Ferienwohnungen in Sichtweite der Seebrücke der Rückzugsort. Beim Blick aufs Meer lässt sich sogar die Corona-Krise vergessen.
Seit 1949 in Ammersbek zu Hause – 18 Jahre im Bundestag
Am 21. Mai 1940 kommt Werner Zywietz in einer Landwirtsfamilie in Ostpreußen zur Welt. 1945 flüchtet die Mutter mit ihm, dem älteren Bruder und der kleinen Schwester nach Hamburg. Der Vater kommt an der Ostfront beim Rückzug zwischen Kiew und Minsk ums Leben.
1949 kann die Familie in ein Gartenhaus nach Ammersbek ziehen. Nach Abitur und Wehrdienst studiert er Betriebswirtschaft in Hamburg, ist AStA-Vorsitzender und tritt 1964 in die FDP ein. Von 1966 bis 1972 sitzt er im Stormarner Kreistag. 1969 fängt der Diplom-Kaufmann beim Mineralölkonzern Esso an.
1970 wird er in den Landesvorstand der FDP Schleswig-Holstein gewählt. Von April 1983 bis April 1985 übernimmt er den Landesvorsitz, 1988 wird er noch einmal stellvertretender Landesvorsitzender. Von 1984 bis 1986 gehört er auch dem Bundesvorstand an.In den Bundestag zieht der Ammersbeker über die Landesliste als Abgeordneter von 1972 bis 1983 und von 1987 bis 1994 ein. Mitglied des Europaparlaments ist er parallel von 1977 bis 1979. Zum Ehrenvorsitzenden ernennt ihn die Stormarner FDP 2017.