Glinde. Das Abendblatt begleitet den Integrationsprozess des Jesiden, der seit 2014 im Kreis lebt und inzwischen in seinem Traumjob arbeitet.
Es ist 11.09 Uhr an diesem Vormittag, als Zedan Khalaf Kassim am Steuer des 18 Meter langen Gelenkbusses pünktlich die Endstation Haidkrug im Reinbeker Stadtteil Neuschönningstedt erreicht. Fünf Stunden ist er jetzt schon unterwegs gewesen, gerade eben auf der Linie 133 aus Richtung Billstedt. Die erste Tour war mit der 8884 und führte nach Trittau – Schülerbeförderung. Jetzt ist Pause und von Müdigkeit bei dem 28-Jährigen keine Spur. In seiner Stimme klingt Begeisterung, wenn er über seinen Job bei den Verkehrsbetrieben Hamburg-Holstein (VHH) spricht: „Für mich ist ein Traum wahr geworden. Etwas Besseres hätte mir nicht passieren können.“
Ehrenamtlicher vermittelte in Hunderten Stunden Wissen
Dass er es zum Busfahrer bringt, hatten seine damaligen Betreuer nicht unbedingt erwartet – im August 2014, als der Iraker nach Oststeinbek kam. Khalaf Kassim ist Jeside und damit Angehöriger einer religiösen Minderheit, flüchtete vor den IS-Terroristen aus seiner Heimatstadt Khanasor, denen viele seiner Freunde zum Opfer fielen. Eine Schule hat er dort nie besucht, als Jugendlicher stattdessen schwere körperliche Arbeit verrichtet, unter anderem als Steineverleger. Das Abendblatt hat seinen Integrationsprozess von Beginn an verfolgt und regelmäßig darüber berichtet.
Zum Beispiel über die Schwierigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache sowie von mathematischen Grundkenntnissen. Ein ehrenamtlicher Helfer aus dem Umfeld der Oststeinbeker Flüchtlingsinitiative hatte sich Zedan Khalaf Kassim früh angenommen, dem Flüchtling in Hunderten Privatstunden Wissen vermittelt und ihn auf Prüfungen vorbereitet. Die Verbindung hält bis heute. Ohne diese Unterstützung hätte es der junge Mann ungleich schwerer gehabt, hier Fuß zu fassen. Allerdings war sein Wille, voranzukommen, unbändig.
Fünfeinhalb Monate Schulung in Theorie und Praxis
Mit dem B-1-Sprachzertifikat schaffte er sein erstes großes Ziel. Es war ein mühsamer Weg ob der mangelnden Vorbildung. Der Hilfsjob in einem Handwerksbetrieb machte ihn lange glücklich. Den Sinn, eine Ausbildung anzufangen, erkannte er nicht sofort. Doch dann kam auch seine Frau nach Deutschland, sie wurden Eltern. Der Junge ist inzwischen eineinhalb Jahre. Der Jeside änderte seine Haltung auch wegen der Familie mit Blick auf die Zukunft, hatte einen Ausbildungsplatz im Einzelhandel sicher, dazu aber noch eine Bewerbung bei Norddeutschlands zweitgrößtem Nahverkehrsunternehmen laufen.
Die VHH sagten zu. Fünfeinhalb Monate wurde Zedan Khalaf Kassim in Theorie und Praxis geschult, bestand die Prüfung problemlos. Bei den sogenannten Lehrfahrten über sechs Wochen ohne Kunden und mit einem Experten an der Seite machte er sich mit dem Streckennetz vertraut.
Khalaf Kassim ist einer von 158 Busfahrern der VHH
Jetzt startet er immer vom Betriebshof in Glinde, ist dort einer von 158 Busfahrern. 45 Linien von Trittau bis zum Hamburger Hauptbahnhof werden von dem Standort bedient. Diesen leitet Patrick Fischer. Der 47-Jährige ist Khalaf Kassims Chef und verrät, welche Voraussetzungen Bewerber mitbringen müssen: „Wichtig ist natürlich das Beherrschen der deutschen Sprache. Und man muss körperlich belastbar sein sowie die Bereitschaft zum Schichtdienst mitbringen.“ Zedan Khalaf Kassim ist in dieser Woche immer früh auf Achse, sein Arbeitstag beginnt gegen 6 Uhr.
Demnächst wechselt er in die Spätschicht, lenkt die VHH-Busse dann von 12 bis 21 Uhr oder auch von 16 Uhr bis Mitternacht. In seinem unbefristeten Vertrag, den er vor Kurzem unterschrieben hat, sind 169 Stunden pro Monat aufgeführt. Dafür bekommt er rund 2500 Euro brutto plus Zuschläge für Spät-, Nacht- und Feiertagsdienste. Obendrauf gibt es noch ein halbes Monatsgehalt in Form von Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie eine betriebliche Altersvorsorge.
Vorgesetzter des Busfahrers lobt dessen kollegiale Art
„Ich bin total zufrieden, das Einkommen reicht aus“, sagt der Flüchtling. Er genieße den Ausblick von seinem Arbeitsplatz und erfreue sich an dem vielen Grün an den Strecken in Stormarn. Mit seiner Art komme Khalaf Kassim bei den Kollegen sehr gut an, berichtet sein Vorgesetzter. Patrick Fischer sagt außerdem über den Iraker: „Er ist ruhig und unauffällig, einfach ein angenehmer Zeitgenosse.“
Heute trägt der Iraker eine Jeans mit hellblauem Hemd sowie dünnen Pullover samt VHH-Logo darüber. Vier Uniformen in unterschiedlicher Zusammensetzung hat er zu Hause. Die Utensilien werden vom Arbeitgeber bezahlt.
Eltern sind in Flüchtlingslager im Irak untergebracht
Er wäre froh, wenn seine Mutter und der Vater sowie die Geschwister einmal bei ihm mitfahren könnten. Die sind jedoch seit Jahren in einem Flüchtlingslager im kurdischen Teil des Iraks untergebracht. Zedan Khalaf Kassim kommuniziert mit ihnen via Smartphone. Mit seiner Frau und dem Nachwuchs ist er inzwischen umgezogen in eine größere Wohnung nach Glinde, die zweieinhalb Zimmer hat.
Es war ihm wichtig, in seiner Umgebung zu bleiben: Auch privat fährt der Lernwillige auf Stormarn ab. Und er ist dankbar. Für einen väterlichen Freund in Oststeinbek im Rentenalter erledigt er Einkäufe. Was Zedan Khalaf Kassim in Corona-Zeiten vermisst? Bei der Antwort muss er nicht lange überlegen: „Ich will wieder mit meinen Freunden in Glinde Fußball spielen.“