Trittau. Der 17-Jährige brach sich beim Sprung ins Wasser einen Halswirbel. Nach 28 Wochen in der Klinik kehrt er zu Weihnachten heim.

Am 18. Dezember ist es so weit. Sechs Tage vor Weihnachten kehrt Finn Zielsdorf zurück nach Trittau, wo der 17-Jährige zu Hause ist. Doch wird dort fortan nichts mehr so sein wie vor dem verhängnisvollen 5. Juni. Jener Tag, an dem ein tragischer Badeunfall sein Leben unwiderruflich geteilt hat – in ein Davor und ein Danach.

Große Teile von Finns Rückemark wurden zerstört

Der 5. Juni ist der erste wirklich schöne Tag des Jahres, sonnig und warm. Er lässt den nahenden Sommer bereits erahnen. Finn zieht es am Nachmittag mit Freunden an den Oststrand des Großensees. Dort stürzt er sich voller Übermut in die kühlen Fluten. Ein Augenblick, an den er sich noch genau erinnern kann. Bis er das Bewusstsein verliert.

Als er wieder zu sich kommt, liegt er auf der Intensivstation des BG Klinikums Hamburg (BGKH), von vielen kurz Boberg genannt. Beim Sprung ins flache Wasser ist es zu einer extremen Stauchung der Wirbelsäule gekommen. Dabei bricht der sechste Halswirbel und bohrt sich in den Rückenmarkkanal. In dem große Teile des Rückenmarks zerstört werden. Die Diagnose der Ärzte ist niederschmetternd.

Finns Prioritäten haben sich durch den Unfall verschoben

Finn und Katja Lehmann während seines ersten Ausflugs auf der Elphi-Plaza am Hamburg Hafen.
Finn und Katja Lehmann während seines ersten Ausflugs auf der Elphi-Plaza am Hamburg Hafen. © Ulf Zielsdorf

Trotz einer operativen Stabilisierung des betroffenen Halswirbelbereichs wird Finn querschnittgelähmt bleiben. „Ich habe lange gebraucht, um die ganze Tragweite dieses Unfalls zu realisieren“, berichtet er dem Abendblatt. Die starken Schmerzmittel seien am Anfang ein großer Trost gewesen: „Ich war weit weg, wie in einer weichen Wolke. Fernab des realen Albtraums.“

Literweise holen Ärzte Wasser aus Finns entzündeter Lunge

Fast zwei Monate muss er ohne Unterbrechung im Bett verbringen. 24 Stunden am Tag umsorgt von Krankenpflegern. Sie lassen nichts unversucht, um seine Schmerzen zu lindern, Trost zu spenden und Mut zuzusprechen. Literweise holen sie gemeinsam mit Ärzten und Therapeuten Wasser des Großensees aus seiner entzündeten Lunge. Ein qualvolles Prozedere, das in den ersten Wochen kein Ende nehmen will. Immer wieder bildet sich Sekret. Das sogar das bloße Atmen zu einem schmerzvollen Akt werden lässt.

„Ich habe in dieser Zeit viel über mich nachgedacht. Über das, was war. Und über das, was sein wird“, sagt er. Die Prioritäten hätten sich dabei verschoben. Früher sei er sehr narzisstisch gewesen, durchtrainiert und kräftig. „Nun musste ich erleben, wie mein Körper rasant abbaut. Und dass er nie mehr so sein wird wie früher.“ 15 Kilo verliert er innerhalb kurzer Zeit. Doch noch mehr macht ihm aber die erzwungene Immobilität zu schaffen.

Wie Finn mit seiner Verletzung umgehe, sei außergewöhnlich

Finn und Katja Lehmann beim Training des selbstständigen Aussteigens aus dem Rollstuhl mithilfe eines Rutschbretts.
Finn und Katja Lehmann beim Training des selbstständigen Aussteigens aus dem Rollstuhl mithilfe eines Rutschbretts. © Lutz Kastendieck

Bis für den Schüler des Gymnasiums Trittau Anfang August die Rehazeit beginnt. Mit täglichen Einheiten bei Physio-, Ergo- und Sporttherapeuten. Und der Erkenntnis, dass jede noch so kleine Verbesserung mit großem Aufwand erarbeitet werden will.

„In dieser Phase gibt es viele Graustufen in der Reaktion von Querschnittgelähmten“, sagt Dr. Roland Thietje, Chefarzt des Querschnittgelähmten-Zentrums im BG Klinikum. Wie Finn Zielsdorf angesichts seines Alters mit seiner schweren Verletzung umgehe, sei außergewöhnlich. „Er hat sein Schicksal angenommen. Mit einer unglaublichen Energie und einem extremen Willen. Deshalb hat er enorme Fortschritte gemacht“, sagt Thietje.

Bewegungsfähigkeit sei nicht mehr signifikant zu verbessern

Von Vorteil sei sicher, dass Finn vor seinem Unfall sehr gut trainiert war. „Darum verfügt er über eine gute Motorik und eine bessere Koordinationsfähigkeit, die, gepaart mit seinen gut ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten sehr hilfreich sind“, erklärt Thietje. Dass Finn inzwischen selbstständig essen, sich allein kathetern und mit dem Rollstuhl ohne fremde Hilfe fortbewegen könne, sei so anfangs kaum absehbar gewesen.

Über dessen Perspektiven habe er Finn indes zu keinem Zeitpunkt im Unklaren gelassen. Er werde seine Bewegungsfähigkeit nicht mehr signifikant verbessern können. Trotz aller Bemühungen der Medizintechnik und partieller Erfolge in Tierversuchen sei die Translation auf den Menschen gering. „Das mag sich brutal anhören, ist aber leider Realität. Ich bin Unfallchirurg und kein Träumer. Deshalb wecke ich bei meinen Patienten auch keine unberechtigten Hoffnungen“, sagt Thietje.

Physiotherapeutin ist von Finns Ehrgeiz begeistert

Durchschlagende Therapiefortschritte, um Rückenmarksverletzungen zu heilen, werde es in den nächsten Jahren kaum geben. „Deshalb haben wir uns in der Reha auf das konzentriert, was noch geht. Und lamentieren nicht über das, was nicht mehr geht“, sagt der Chefarzt. Übergeordnete Zielsetzung sei es gewesen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass aus Finn irgendwann ein weitgehend selbstbestimmter Steuerzahler werden kann. „Ich bin überzeugt, das kriegt er hin“, sagt Roland Thietje.

Daran glaubt auch Physiotherapeutin Katja Lehmann. „Finn hat so eine positive Grundhaltung, ihm traue ich alles zu“, sagt die 33-Jährige. Gemeinsam haben sie in den vergangenen Wochen seine Sitzposition im Rollstuhl optimiert, das Ein- und Aussteigen mittels eines Rutschbretts geübt und das selbstständige, sichere Fortbewegen mit dem Rollstuhl.

„Finn musste wieder viel Muskulatur in Schultern und Armen aufbauen, um mittels Trickbewegungen den Ausfall anderer Muskelgruppen kompensieren und dadurch mobiler sein zu können“, erklärt die Fachfrau. So könne er zwar den Bizeps trainieren, nicht aber den Trizeps. „Das war für ihn echter Leistungssport. Doch das hat er mit viel Ehrgeiz und einer erstaunlichen Portion Humor gemeistert“, so Katja Lehmann.

Finns Eltern haben ihr Haus barrierefrei umbauen lassen

Finns Eltern Ulf (l.) und Silke (r.) mit seiner Schwester Lena und Max Kulling, der ihn als Ersthelfer reanimierte.
Finns Eltern Ulf (l.) und Silke (r.) mit seiner Schwester Lena und Max Kulling, der ihn als Ersthelfer reanimierte. © Lutz Kastendieck

Dennoch hat Finn nach insgesamt 28 Wochen im Unfallkrankenhaus Respekt vor der Rückkehr in den Alltag. „Das Leben ist einfacher unter vielen, die das gleiche Schicksal teilen. In Boberg bin ich nicht der Tetraplegiker, sondern einfach Finn. In Trittau werde ich ein Rollstuhlfahrer unter vielen Fußgängern sein“, sagt er. Zu Hause sei er fortan mehr auf sich selbst gestellt. Besonders in unvorhergesehenen Situationen, in denen rasche Hilfe nicht sicher sei.

Seine Eltern Silke und Ulf haben in den vergangenen Wochen unterdessen dafür gesorgt, das Erdgeschoss ihres Hauses barrierefrei umbauen zu lassen. Ein Teil des Wohnzimmers ist in ein neues Zimmer für Finn umgewandelt, der Flur zugunsten eines rollstuhlgerechten Bads verkleinert worden.

Fast 40.000 Euro an Spenden zusammengekommen

Dabei erleben sie die gleiche Anteilnahme wie unmittelbar nach dem Bekanntwerden von Finns Unfall. Unternehmer, Geschäftsleute, Gewerbetreibende, der örtliche Sportverein TSV, das Gymnasium und die Hahnheideschule organisierten Spendenaktionen und halfen auf diese Weise ebenso wie zahlreiche Privatpersonen. Innerhalb einer Woche sind 12.000 Euro Spenden zusammenkommen, bis heute fast 40.000 Euro.

Das klingt viel. Es ist aber längst nicht genug, um Finn mit seiner schweren Behinderung eine umfassende Teilhabe am Leben zu ermöglichen. So möchte die Familie im kommenden Jahr ein behindertengerechtes Auto anschaffen, um den Junior besser transportieren zu können. „Dass uns unkonventionell und schnell dann auch das Bauunternehmen Gehrken aus Lütjensee, die Sanitärtechniker von Wriggers aus Grönwohld, der Elektriker Fischer aus Reinbek, die Zimmerei Johnsen aus Grande und Freunde von Finn beim schnellen Umbau des Hauses so großartig unterstützt haben, hat uns ebenso sehr bewegt und mit tiefer Dankbarkeit erfüllt, wie jede einzelne Spende“, sagt Ulf Zielsdorf.

Finn will im neuen Schuljahr die elfte Klasse angehen

Inzwischen sind auch ein Pflegedienst und die unerlässliche Physiotherapie organisiert. Für Finn wird die Rückkehr nach Hause dennoch eine große Umstellung. Doch er hat sich schon wieder neue Ziele gesteckt. Wie etwa Schwedisch lernen, die Muttersprache seiner Großmutter Brita. Möglichst bald würde er gern wieder aufs Gymnasium gehen und die zehnte Klasse wiederholen. Um wieder zurück in den Alltag und ins Lernen zu finden. „Damit ich nach den Sommerferien gut vorbereitet in die elfte Klasse starten kann“, sagt Finn. Dazu gehöre auch die Suche nach einem Wirtschaftspraktikum, das Bestandteil des Lehrplans der Klassenstufe 11 ist.

„Es hilft nicht, zurückzuschauen. Ich muss weiter versuchen, das Beste aus mir und meiner Situation herauszuholen“, sagt Finn voller Lebensmut. Das sei er nicht zuletzt seiner Familie schuldig. Und allen, die ihn bisher so selbstlos unterstützt hätten und weiter an ihn glauben würden.

Spendenkonto: IBAN: DE29 2135 2240 0187 2685 11, BIC: NOLADE21HOL, Kontoinhaber: Daniela Reimers, Betreff: Finn.