Ahrensburg/Barsbüttel . Ministeriumsstatistik weist relativ wenige Stundenstreichungen aus. Beiräte und Schüler aus Stormarn kritisieren „hohe Dunkelziffer“.
Ein Blick auf die Statistik des Bildungsministeriums zum Unterrichtsausfall offenbart scheinbar Erfreuliches: Durchschnittlich fallen an Stormarns Schulen weniger als drei Prozent des Unterrichts aus. Doch Eltern und Schüler zweifeln an den Zahlen. „Diese Statistik ist nicht aussagekräftig“, sagt Jörn Herrmann, Vorsitzender des Kreiselternbeirates (KEB) der Gymnasien. „Die Dunkelziffer ist erheblich größer.“
Vielfach tricksten die Schulen mit fragwürdigen Vertretungskonzepten, so Herrmann, der auch Elternvertreter an der Ahrensburger Stormarnschule ist. Auch andere Schüler und Eltern kritisieren eine „Verschleierung von Ausfallanteilen“. Schulen sind zwar verpflichtet, Unterrichtsausfall an das Ministerium zu melden, dennoch erscheint ein Teil dieser Stunden nicht im Bericht, so die Kritik. Denn: Nicht jede Stunde, in der kein Unterricht erteilt wird, ist statistisch auch eine Ausfallstunde.
Eigenlernzeiten sind besonders in der Oberstufe üblich
Schulen stehen zahlreiche Alternativen zum „fällt aus“ auf dem Vertretungsplan zur Verfügung: Die nicht fachgemäße Vertretung meint das Ersetzen von Stunden durch weniger vorbereitungsintensive Fächer. Dann steht statt Deutsch oder Mathe etwa Sport auf dem Stundenplan. Besonders in den höheren Klassenstufen sind Lösungen beliebt, die die Lernverantwortung in die Hände der Schüler legen – meist ohne Betreuung.
Entweder ist eine Lehrkraft für mehrere Klassen zuständig, verteilt Aufgaben und muss zwischen mehreren Klassenräumen wechseln. Oder es ist kein Pädagoge anwesend. Beim „Eigenverantwortlichen Arbeiten“, kurz EA oder EVA, erhalten die Schüler Arbeitsaufträge, oft auf elektronischem Wege, sollen diese selbstständig, mit der Option auf Arbeit zu Hause, durcharbeiten.
„Für die Oberstufe ist eigenverantwortliches Arbeiten explizit im Schulgesetz vorgesehen“, weiß Herrmann. Dabei komme es gerade in der Vorbereitungsphase auf das Abitur auf eine gute Betreuung durch Lehrkräfte an. „In den Klassen 5 und 6 ist die Ausfallstatistik meist top, weil hier die Bemühungen konzentriert werden, fachgerecht zu vertreten“, sagt Herrmann. In der Oberstufe würden dafür Lehrkräfte abgezogen.
Ausfall bestätigt sich in der Praxis
Diese Erfahrung macht auch Zwölftklässler Mike T. (Name geändert). Er besucht die Trittauer Hahnheideschule. „Kürzlich waren es bei uns in einer Woche zwölf Stunden, die ausfielen“, berichtet er. Das sei zwar schon ein Spitzenwert, doch acht bis zehn Stunden Ausfall habe es auch schon in drei anderen Wochen gegeben. Im Schnitt seien vier Stunden pro Woche realistisch. „In der Regel dürften sie als Eigenlernzeit deklariert werden, das ist in unserer Klassenstufe keine Seltenheit“, so Mike T. Über „iserve“, einen speziellen schulinternen Server, würden die Lehrer Aufgaben einstellen, mit denen sich die Schüler nicht gegebenen Lehrstoff selbst erarbeiten müssen. „Darunter sind Themen, die zuvor kaum oder nicht gelehrt worden sind“, sagt der Zwölftklässler. Besonders prekär sei gehäufter Ausfall in Hauptfächern wie Wirtschaft und Politik, Geografie und Geschichte. Allerdings spiegele sich dieser Ausfall in der Statistik nicht wider. An Gemeinschaftsschulen wie der Hahnheideschule sind laut Ausfallbericht für das Schuljahr 2017/18 kreisweit lediglich 3,1 Prozent des Unterrichts ausgefallen. Sie werden lediglich von Stormarns Gymnasien mit 3,4 Prozent übertroffen. An Förderzentren lag der Ausfallanteil laut Statistik bei gerade einmal 1,5 Prozent, bei den Grundschulen waren es nur 0,2 Prozent. „Bei den Grundschulen muss man aber das Prinzip der verlässlichen Grundschule berücksichtigen“, sagt Stormarns Schulrätin Kirsten Blohm-Leu. Demnach sind Grundschulen verpflichtet, Schüler der Klassen 1 und 2 von 8 bis 12 Uhr, der Klassen 3 und 4 bis 13 Uhr zu betreuen.
Stormarn liegt im Mittelfeld
Im Landesvergleich ist Stormarn im Mittelfeld zu verorten. Während der Kreis bei den Grundschulen überdurchschnittlich gut abschneidet (Landesschnitt 0,5 Prozent), steht er bei den weiterführenden Schulen weniger gut da. Im Landesschnitt fielen an Gymnasien nur 2,9 Prozent der Stunden aus, an Gemeinschaftsschulen mit Oberstufe landesweit nur 2,6 Prozent.
Der häufigste Grund für Unterrichtsausfälle im vergangenen Schuljahr waren laut Kieler Ministerium Krankheitsfälle bei den Lehrern (57 Prozent). 32 Prozent der Stunden fielen Prüfungen, Projekttagen oder dem Lernen an anderen Orten zum Opfer. Fort- und Weiterbildungen verursachten fünf Prozent, Sonderurlaube vier Prozent der Unterrichts-Streichungen.
Doch diese Werte können die Eltern nicht besänftigen. Herrmann plädiert dafür, die EVA-Stunden in die Statistik mit einzubeziehen, schließlich werde kein planmäßiger Unterricht erteilt. „Dann würden die Zahlen anders aussehen.“ Das sieht auch Angela Tsagkalidis, KEB-Vorsitzende der Gemeinschaftsschulen, so. Grundsätzlich negativ bewerten möchten Herrmann und Tsagkalidis das Konzept EVA nicht, es sei besser als ein vollständiger Ausfall. „Oberstufenschüler sollten als angehende Studenten in der Lage sein, auch selbstständig zu arbeiten“, sagt sie zum Abendblatt. Allerdings funktioniere eigenverantwortliches Lernen nur, wenn die Schule und die Lehrer es gut organisierten.
Eigenarbeit wird bislang wenig koordiniert
„Fatal ist, wenn die Lehrer die Schüler nicht mit Aufgaben versorgen und auch die Besprechung ausbleibt.“ Da gebe es durchaus Qualitätsunterschiede an Stormarns Schulen, weiß Tsagkalidis, deren Kinder die Oberstufe einer Barsbütteler Gemeinschaftsschule besuchen. Herrmann betont, dass die EVA-Lösung eine Notlösung bleiben müsse, sie dürfe keine Alternative zur Vertretungsstunde mit Lehrkräften werden. An der Stormarnschule funktioniere das eigenverantwortliche Arbeiten meist. An größeren Schulen wie der Sachsenwaldschule in Reinbek mit ihren 1100 Schülern gebe es aber häufiger Probleme bei der Organisation der Eigenarbeit und dem Verteilen der Aufgaben, werde ihm von Beiratsmitgliedern berichtet.
Wenig Sorgen bereiten Unterrichtsausfälle indes den Grundschul-Eltern. Stefan Scheuermann, Vorsitzender des KEB für die Grundschulen, sagt: „Dass die Betreuungszeiten nicht eingehalten werden, ist die absolute Ausnahme.“ Meist könne der Unterricht fachidentisch vertreten werden. Dennoch gäbe es auch bei den Grundschulen eine Dunkelziffer an Unterrichtsausfall. „In den Grundschulen wird dann gern eine Spiel- und Sportstunde eingeschoben“, weiß der Reinbeker.
Alle drei Elternvertreter sehen ein grundsätzliches Problem: „Die Lehrerzahl ist derart knapp bemessen, dass keine Vertretungskräfte kurzfristig einspringen können“, sagt Herrmann. So habe die Stormarnschule für das kommende Schuljahr weniger Neuanmeldungen verzeichnet. Bereits jetzt stehe fest, dass dafür Lehrerstellen gestrichen werden. „Stattdessen könnte man die Pädagogen halten, um Krankheit besser abfedern zu können“, schlägt Herrmann vor.
Ministerium will EVA-Stunden zukünftig einbeziehen
Auf Abendblatt-Anfrage bestätigt Patricia Zimnik, Sprecherin des Bildungsministeriums, dass man sich der Kritik der Eltern bewusst sei und Veränderungen bereits auf den Weg gebracht habe. „Seit diesem Schuljahr wird erstmals auch an allen Schulen der Anteil des eigenverantwortlichen Arbeitens (EVA) ohne Lehrkraft erhoben, um ihn transparent ausweisen zu können. Damit trägt das Bildungsministerium der Tatsache Rechnung, dass viele Eltern das eigenverantwortliche Arbeiten als Unterrichtsausfall einstufen“, so Zimnik.
Nach Ministeriumsangaben liege der Anteil der EVA-Stunden am nicht planmäßig erteilten Unterricht bei rund 20 Prozent. Auch wolle man die Anzahl der Lehrerstellen um 153 landesweit erhöhen, um Krankheit so besser abfedern zu können. Herrmann kündigt eine landesweite Befragung der Eltern zu den Ausfallstunden an, „die Vorbereitung wird aber bestimmt ein Jahr dauern.“