Bargteheide. Alles begann 2013 mit einem Chat unter Freunden. Nun hat die Pendler-Gemeinschaft Bargteheide-Hamburg 171 Teilnehmer.

Sandra und Dirk sehen einander heute zum ersten Mal. Zumindest sprechen sie zum ersten Mal persönlich miteinander. Dabei verbindet die beiden Bargteheider seit Jahren eine lockere digitale Gemeinschaft, die wohl einmalig im Kreis Stormarn sein dürfte: eine Chatgruppe mit dem prosaischen Namen „RB 81“ – benannt nach ihrem zweiten Zuhause auf Schienen, der Regionalbahn 81.

Über die drei Gleise des Bargteheider Bahnhofs weht am heutigen Nachmittag ein kalter Wind. Regelmäßig sind Sandra und Dirk wochentags hier. Vermutlich aber haben sich ihre Wege nie gekreuzt. Denn Sandra und Dirk sind zwar beide Pendler, haben aber einen anderen Rhythmus. Sandra fährt um 6.40 Uhr – sofern der Zug pünktlich kommt – was, wie die 39 Jahre alte Versicherungskauffrau sagt, nicht immer der Fall sei. Dirk fährt rund eine Stunde später und seit Kurzem vom Gleis gegenüber, weil der 50-Jährige einen Job in Lübeck gefunden hat.

Viele lesen Zeitung während der Fahrt, andere surfen im Netz

Solche Einträge sind auf den Smartphone-Displays der Gruppenmitglieder zu finden.
Solche Einträge sind auf den Smartphone-Displays der Gruppenmitglieder zu finden. © HA | Thomas Jaklitsch

Als moderne Nomaden zwischen Beruf und Familie setzen sich die beiden – wie viele andere aus dem Kreis – regelmäßig in den Zug, um in der Stadt ihr Geld zu verdienen. Knapp eine Stunde dauert ihr Weg zur Arbeit – ebenso lange fahren sie abends wieder Heim. Viel Zeit also für ein Nickerchen, Bücher- und Zeitungslektüren. Oder um sich darüber zu ärgern, dass sich zur knappen Stunde regelmäßig ungeplant Verspätungen addieren. Um die Überraschungen im Pendleralltag so klein wie möglich zu halten, haben Sandra und Dirk schon vieles ausprobiert. Sie haben mögliche Alternativrouten erkundet und dabei auch Fahrrad oder Auto für Teile der Strecke eingesetzt. Sie haben Handy-Anwendungen von der Deutschen Bahn oder den Hamburger Verkehrsbetrieben getestet. Seit einigen Jahren haben sie die WhatsApp-Gruppe „RB 81“. Sie ist der Grund, warum sich Sandra und Dirk heute am Bahngleis treffen und dann später in einem Café in Bargteheide gegenübersitzen. Sie ist auch der Grund, warum sie einander nur mit dem Vornamen kennen und duzen, obwohl sie sich noch nie gesehen haben.

Sandra ist schon seit 18 Jahren auf dieser Strecke unterwegs

Am 18. Juli 2013 hatte Sandra, die schon seit rund 18 Jahren auf der Strecke unterwegs ist, die digitale Zuggemeinschaft ins Leben gerufen. Sie wollte sich mit Kollegen und Leidensgenossen austauschen. „Dann ging es im Schneeballsystem weiter“, sagt Sandra. 171 Teilnehmer sind mittlerweile in der Gruppe. Als Administrator hat sie alle Teilnehmer in ihrem Telefonbuch gespeichert, auch den Autor dieser Zeilen. „Ihr seid unter Bahn Dirk und Bahn Sebastian gespeichert“, sagt sie, während sie eine heiße Schokolade schlürft.

„Bahn Dirk“, der vor zwei Jahren zu der Gruppe kam, ist 50 Jahre alt und arbeitet in der Finanzbranche. Er pendelt seit etwa 20 Jahren. Die Gruppe „RB 81“ ist für ihn eine perfekte Informationsquelle, weil sie die Infos in Echtzeit liefere – und das regelmäßig schneller als die Bahn. Beispielsweise am Montag, 1. Oktober 2018, als einer der Nutzer mit seinem Zug in Ahrensburg strandet: Dort sieht er Polizei und Blaulicht am Bahnhof und schreibt das in die Gruppe. Exakt vier Minuten später kommt die Antwort: „Es befinden sich zwei Kälber im Gleis zwischen Ahrensburg und Rahlstedt.“ Einige Minuten später dann wiederum eine Replik: „Wegen des Krankenwagens denke ich, dass hier in Ahrensburg noch ein weiteres Problem vorliegt. Gesundheit und Kälbchen gehen vor. Aber ‘ne kleine Info wäre schon ganz nett. Danke dir!“

„Du bist nicht allein“, sagt Sandra, „das ist ein gutes Gefühl“

Neben solchen Informationen freue sich Sandra auch über den freundlichen Ton der Nachrichten, sagt sie. Und häufig auch über ihren ironischen Unterton. „Du bist nicht allein“, sagt sie, „das ist ein gutes Gefühl.“ Mit etwas Galgenhumor lasse sich auch ein Zugausfall besser ertragen, der den Terminkalender empfindlich durcheinanderbringt: Nachdem Personen auf dem Gleis die Einfahrt zum Hauptbahnhof am Dienstagmorgen, 13. November, verhindert hatten, schreibt eine Nutzerin: „Wahnsinn, wir rollen.“ Ein anderer postet ein Bild von einem Tretroller und den Kommentar, es morgen doch lieber auf dem Kinderspielzeug nach Hamburg zu versuchen, als noch einmal in die Bahn zu steigen.

Gefühlt gibt es alle zwei Tage Verspätungen bei der Bahn

Wie oft es zu Verspätungen oder Zugausfällen komme? „Gefühlt alle zwei Tage“, sagt Dirk und grinst. Sandra nickt. „Die Regel ist, dass er nicht pünktlich kommt“, sagt sie. Deshalb schaue sie stets auf ihr Handy, bevor sie losfährt. Auf der Hinfahrt störe sie die Verzögerung kaum, sagt die zweifache Mutter, die in Gleitzeit arbeitet. Auf der Rückfahrt sehe das jedoch anders aus. Schließlich will der Nachwuchs von der Kindertagesstätte abgeholt werden. Und die richte sich mit dem Feierabend nun einmal nicht nach dem Ersatzfahrplan der Bahn.

Von „Brückenanfahrschaden“ über „Böschungsbrand“ bis „wir haben keinen Lokführer“ haben die Pendler schon sämtliche Variationen der Entschuldigungen gehört, die für gewöhnlich aus den Lautsprechern an Gleisen oder in den Zügen knarzen. Viele der Verspätungen gehen auf den störungsanfälligen Bahnübergang am Braunen Hirsch in Ahrensburg zurück. Besonders ärgerlich finden Sandra und Dirk aber, wenn es keine Information gibt.

Mehr als eine Stunde ohne Strom und Licht im Winter im Zug

Seine längste und nervigste Fahrt hatte Dirk im Dezember 2010: An einem Winterabend hatte es bei heftigem Schneetreiben bei Tremsbüttel einen Kurzschluss in der Oberleitung gegeben. Der Zug blieb auf offener Strecke liegen. Erst ging das Licht, dann die Heizungen aus. Dann passierte lange nichts. Stunden später gipfelte der Abend in einem Großeinsatz des Stormarner Katastrophenschutzes, die Feuerwehr befreite die Fahrgäste aus dem Zug. Der Bargteheider hat den Abend in einem Folgezug auf der Strecke erlebt. Er saß zwischen Ahrensburg und Rahlstedt fest. „Das war mein heftigstes Erlebnis“, sagt Dirk, „der Zug fuhr nicht mehr, es war komplett dunkel.“ 1,5 Stunden später kam er in Ahrensburg an, wo unter anderem Helfer des Technischen Hilfswerks warteten. Aber es gab nicht genug Busse, um alle Reisenden nach Haus zu bringen. Rund eine Stunde später kam Dirk dann in Bargteheide an. Seine Frau hatte ihn mit dem Auto abgeholt.

Trotz allen Ärgers pendeln Sandra und Dirk immer noch gern

Sandra und Dirk pendeln dennoch gern. Das sei, so sagen sie unisono, preiswerter und deutlich entspannter, als mit dem Auto in die Stadt zu fahren. Dort will schließlich auch noch ein Parkplatz gefunden werden. Und neben der digitalen Bekanntschaft mit rund 170 Mitreisenden in der WhatsApp-Gruppe hätten sich unter den vielen Mitreisenden auch im echten Leben schon viele interessante Bekanntschaften ergeben. So entspannt mit Unbekannten per Du? Das geht wohl besonders gut auf dem Gleis zwischen Arbeitswelt und Privatleben.

Wer pendelt und gern in die Gruppe aufgenommen werden möchte, kann sich per E-Mail an stormarn@abendblatt.de wenden. Gesuche werden dann weitergeleitet.