Zug blieb bei Tremsbüttel liegen. Hunderte Fahrgäste mussten stundenlang ausharren
Tremsbüttel. "Es ist ein Skandal. Ich bin stocksauer. So etwas kann die Bahn nicht machen." Florian Kling kommt aus Stuttgart. Er hat einen Termin in Lübeck. "Der ist sehr wichtig: meine Akustikerprüfung." Doch Lübeck ist für den 24-Jährigen gefühlt gerade so fern wie nie zuvor. Seinen Rucksack geschultert, steht Kling im knöcheltiefen Schnee auf einer Schloßstraße. Ihren Namen kennt er vom Straßenschild. Irgendjemand hat erzählt, dass dieses Dorf Tremsbüttel heißt. Dieses Dorf, an dessen Rand er auf offener Strecke aus dem Zug gestiegen ist. "Ich habe keine Ahnung, wo ich bin", sagt Kling.
Donnerstagabend in Tremsbüttel. Hunderte von Menschen stapfen die Schloßstraße entlang, Hunderte von Menschen, die ähnlich fühlen wie Florian Kling. Und die nicht weniger schimpfen. Sie gehören zu den schätzungsweise knapp 600 Passagieren jenes Regionalexpresses, dessen Fahrt am Rande von Tremsbüttel ein jähes Ende gefunden hat, dessen Gefangene sie über Stunden gewesen sind, ohne Heizung, ohne Licht, ohne Toilette (das Abendblatt berichtete). Kurzschluss in der Oberleitung. Fünf Menschen sind kollabiert, sie werden von Notärzten betreut. Drei Fahrgäste müssen ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Auch Stormarns Landrat Klaus Plöger ist verärgert, als er von dem Vorfall erfährt. "Was in Tremsbüttel passiert ist, das ist ein Ding der Unmöglichkeit", sagt er. Wobei das eigentliche Problem darin besteht, dass über Stunden nichts passiert ist. Dass die Deutsche Bahn den Vorfall selbst auf Nachfrage bagatellisiert hat. Plöger will im Januar ein Krisengespräch mit Bahn suchen.
Der Reihe nach: Es ist 16.10 Uhr, als Regionalexpress 21424 mit vierminütiger Verspätung den Hamburger Hauptbahnhof verlässt. 42 Minuten später soll er den Hauptbahnhof in Lübeck erreichen. Doch nach 20 Minuten, um 16.30 Uhr, ist die Fahrt bei Tremsbüttel zu Ende. Lange Zeit geschieht nichts. "Irgendwann ist das Licht ausgegangen, die Leute haben geschrien, und keiner hat uns gesagt, was los ist", sagt Christian Rudolph, 36, später. Zu dieser Zeit seien die Toiletten bereits übergelaufen. Zugbegleiter hätten sie einfach abgeschlossen.
Der weitere Fortgang ergibt sich aus dem Protokoll der Rettungsleitstelle im Oldesloer Kreishaus, aus dem deren Leiter Markus Hilchenbach zitiert. 18.45 Uhr. Die Polizei ruft in der Leitstelle an. Es seien Notrufe aus einem Zug eingegangen. Ob im Kreishaus jemand etwas wisse? Hilchenbach: "Wir haben die Notfallleitstelle der Bahn in Hannover angerufen. Antwort: Alles sei unproblematisch. Es gebe keinen Einsatzgrund."
19.07 Uhr. Polizisten der Bargteheider Wache fahren trotzdem zum Gleis. Sie sehen, dass bahnseitig noch gar nichts passiert. Sie beobachten tumultartige Szenen im Zug und erfahren, dass Fahrgäste kollabiert sind. Die ersten Fahrgäste verlassen den Zug. Erneuter Anruf bei der Rettungsleitstelle. Die löst um 19.11 Uhr "Manv1" aus - "Massenanfall von Verletzten." Der Rettungsdienst wird verstärkt, Notärzte fahren an die Bahnstrecke. Der Bahnverkehr auf dem Nachbargleis wird eingestellt. Um 19.12 Uhr ruft die Leitstelle "Manv2" aus. Jetzt rücken auch die Feuerwehr und Versorgungseinheiten aus.
Helfer des Katastrophenschutzes richten das Tremsbütteler Gemeindezentrum als Behelfsunterkunft her, kochen Tee. Gegen 19.45 Uhr treffen die ersten Fahrgäste dort ein. Feuerwehrleute haben sie geführt. Notärzte behandeln im Zug kollabierte Fahrgäste, diagnostizieren Herz- und Kreislaufprobleme. Inzwischen ist eine Diesellok eingetroffen. Als die Ärzte gehen, schleppt sie die Wagen zurück nach Bargteheide.
Um 20.16 Uhr erfährt die Leitstelle, dass in Bargteheide 200 Menschen seit Stunden auf dem Bahnsteig stehen. Auch in der Anne-Frank-Schule wird eine Notunterkunft eingerichtet. 15 Minuten später trifft die Meldung ein, dass sich auf dem Ahrensburger Bahnhof ähnliche Szenen abspielen.
Gegen 21.30 Uhr treffen Busse in Tremsbüttel ein, tritt mit Notfallmanager Helmut Brinckmann erstmals ein Vertreter der Bahn vor die Fahrgäste, die noch im Tremsbütteler Gemeindezentrum warten. "Es hat wegen des Wetters extrem lange gedauert", sagt er, "wir können uns nur entschuldigen." Dieser Zeitung sagt er später, die Passagiere selbst hätten den Einsatz verzögert, indem sie aus dem Zug ausgestiegen sind. Bahnsprecher Egbert Meyer-Lovis sagte in einem dpa-Interview: "Es ist einfach zu lange gewesen. Wir müssen deutlich sagen, dass wir uns bei jedem Reisenden, der festgesessen hat, entschuldigen müssen. Wir werden uns bei den Reisenden kulant zeigen." Laut NDR-Info soll jeder Reisende 250 Euro Entschädigung bekommen. Eine Anfrage dieser Zeitung blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.