Glinde. Viele Menschen trauen sich Erste-Hilfe nicht zu. Auch Marco Eisenberger hatte Zweifel, als er einem Mann in Glinde zu Hilfe eilte.
„Es herrschte ein absolutes Chaos. Viele Menschen standen herum, aber keiner hat geholfen. Alle hatten Angst, den Mann anzufassen.“ So beschreibt Marco Eisenberger die Situation, als er vor elf Tagen mit einer Kollegin aus der Haspa-Filiale in Glinde eilte. Ein Kunde hatte in der Sparkasse an der Mühlenstraße um Hilfe gerufen, weil ein Mann auf dem Vorplatz mit einem Herz-Kreislauf-Stillstand zusammengebrochen war. „Niemand wollte Verantwortung übernehmen“, sagt Eisenberger. Er gibt zu: „Auch ich hätte mich in dem Moment gern verkrochen.“
Doch das tut der Reinbeker nicht, wird stattdessen zum Lebensretter für den Mann. Während eine Passantin und seine Kollegin mit der Reanimation beginnen, alarmiert er den Rettungsdienst. Der Disponent der Integrierten Regionalleitstelle Süd gibt ihm per Telefon Anweisungen durch. „Keine stabile Seitenlage und lieber eine durchgängige Herzdruckmassage als eine Mund-zu-Mund-Beatmung“, habe der Experte ihm geraten. Dann lässt sich der 36-Jährige über die App „Hamburg schockt“ des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) verfügbare Defibrillatoren in der Umgebung anzeigen. Die Anwendung bietet ähnliche Funktionen wie die App „Meine Stadt rettet“, die die Leitstelle in Bad Oldesloe seit zwei Monaten nutzt, um Ersthelfer in der Umgebung zu alarmieren (siehe Textende).
Eisenberger hatte Erste-Hilfe-Kurs gerade erst aufgefrischt
„Ich wusste ungefähr, was in einem solchen Notfall zu tun ist, denn ich habe in diesem Jahr einen Auffrischungskursus in Erster Hilfe gemacht“, sagt Eisenberger. Dabei übte er auch den Umgang mit Defibrillatoren. Laut App ist das nächste Schockgerät zur Wiederbelebung im Glinder Rathaus stationiert, knapp 200 Meter von der Haspa entfernt. Eisenberger rennt zum Verwaltungsgebäude, holt den Defibrillator. Seine Kollegin setzt das Gerät an, während er ihr Anweisungen gibt.
Irgendwann eilen drei weitere Ersthelfer hinzu, die von der Leitstelle per Smartphone über die App „Meine Stadt rettet“ alarmiert wurden. Dann der Rettungsdienst, der die weitere Behandlung des Mannes übernimmt. Die Zeit kommt Marco Eisenberger ewig lang vor. In Wirklichkeit sind seit dem Notruf erst sechs Minuten vergangen, wie das Einsatzprotokoll der Leitstelle in Bad Oldesloe später dokumentiert.
Das Erlebnis hat den Reinbeker aufgewühlt. „Es war mein erster Einsatz als Ersthelfer“, sagt er. „Meine Kollegin und ich dachten, wir hätten alles falsch gemacht und wären viel zu langsam gewesen.“ In den Tagen danach versucht er, Informationen über den Gesundheitszustand des Glinders zu bekommen. Aber ohne Erfolg. „Meine Kollegin ist sogar zum Reinbeker Krankenhaus gefahren, wurde aber abgewiesen“, sagt er. Aus dem Abendblatt erfahren die Retter schließlich, dass der Mann überlebt hat. „Meine Kollegin hat vor Freude geweint, als sie das gehört hat“, sagt Eisenberger. „Auch bei mir ist eine riesige Anspannung abgefallen. Es ist schön, dass unser Einsatz etwas gebracht hat.“
Keine Angst vor dem Defibrillator
Bis zu dem Notfall vor knapp zwei Wochen sei Erste Hilfe unter seinen Kollegen nie ein Thema gewesen. Inzwischen werde täglich darüber gesprochen. Eisenberger möchte andere Menschen animieren, in solchen Fällen ebenfalls Verantwortung zu übernehmen und sich nicht aus Angst vor Fehlern zu drücken. „Mit einem Defibrillator kann man zum Beispiel nichts falsch machen“, sagt er. „Das Gerät gibt konkrete Anweisungen. Außerdem misst es zunächst, ob bei dem Patienten noch ein Herzschlag vorhanden ist. Nur wenn nicht, erfolgt ein Elektroschock.“
Offenbar trauen sich in Deutschland aber nur sehr wenige Menschen Erste-Hilfe-Maßnahmen zu. Laut einer Statistik des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) helfen Passanten lediglich in 22 Prozent der Fälle, wenn jemand in der Öffentlichkeit einen Herz-Kreislauf-Stillstand erleidet. Die Bundesrepublik steht damit europaweit an vorletzter Stelle. Dabei ist schnelle Hilfe in diesen Fällen überlebensnotwendig. „Wenn nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand nicht innerhalb von fünf Minuten mit der Reanimation begonnen wird, ist ein Überleben des Patienten sehr unwahrscheinlich“, sagt Sebastian Wenk, Einsatzsachbearbeiter bei der Regionalleitstelle. „Pro Minute sinken die Chancen um zehn Prozent.“ Da der Rettungsdienst in der Regel nicht so schnell vor Ort sein kann, sind Ersthelfer gefragt.
Marco Eisenberger möchte mit gutem Beispiel vorangehen. „Auch ich habe Zweifel, ob ich beim nächsten Mal wieder den Mut hätte, zu helfen“, sagt er. „Es kostet Überwindung.“ Um sich selbst dazu „zu zwingen“, habe er sich jetzt bei der App „Meine Stadt rettet“ angemeldet. Er sagt: „Wenn mir mal etwas passiert, möchte ich auch nicht, dass alle wegschauen.“
So können auch Sie mithilfe der App zu einem Lebensretter werden
Etwa 100.000 Menschen sterben in Deutschland pro Jahr an einem plötzlichen Herztod. Er zählt damit zu den häufigsten Todesursachen. Experten zufolge könnten viele Patienten überleben, wenn schneller mit der Reanimation begonnen werden würde. Passiert mehr als fünf Minuten lang nichts, ist demnach ein Überleben sehr unwahrscheinlich. Das Problem: Der Rettungsdienst ist häufig viel später vor Ort. Die gesetzliche Hilfsfrist liegt bei zwölf Minuten. Deshalb setzt die Integrierte Regionalleitstelle Süd in Bad Oldesloe seit zwei Monaten auf die App „Meine Stadt rettet“. Dabei werden im Notfall automatisch ehrenamtliche Ersthelfer in der Umgebung per Smartphone alarmiert. Das System arbeitet GPS-basiert. In Städten werden Ersthelfer in einem Radius von 500 bis 800 Meter gesucht, in ländlichen Regionen innerhalb von 2,5 Kilometern. Bei dem Einsatz in Glinde vor elf Tagen wurden gleich drei Helfer alarmiert.
Wer helfen möchte, muss sich zunächst die kostenlose App „Meine Stadt rettet“ herunterladen. Zur Freischaltung ist ein Qualifikationsnachweis erforderlich, etwa eine gültige Erste-Hilfe-Bescheinigung, die nicht älter als zwei Jahre sein darf. Auch Sanitäter, Krankenpfleger und Ärzte können sich registrieren.