Lasbek. Ein Unfall wie auf der A1 stellt Polizei, Staatsanwaltschaft und Unfallforscher vor Herausforderungen. Abendblatt sprach mit Experten.

Manchmal sind es Auffahrunfälle in der Stadt, die glimpflich ausgehen, bei denen nur Blech beschädigt wird. Manchmal kollidieren Autos auf Landstraßen mit hoher Geschwindigkeit frontal, Menschen kommen zu Schaden. Tag für Tag kracht es auf Stormarns Straßen Dutzende Male. Selten hingegen ereignen sich so schwere Unfälle wie die Massenkarambolagen am 14. Januar auf der Autobahn 1 bei Lasbek, bei der mehrere Menschen zum Teil schwer verletzt wurden, eine Frau ums Leben kam. Immer wieder muss die Polizei herausfinden, was genau hat zum Unfall geführt, wer die Schuld trägt. Das Abendblatt hat am Beispiel dieses Ereignisses bei Experten nachgefragt.


Was passierte auf der A1?

Es waren 34 Fahrzeuge, die am Sonnabend vor einer Woche auf der A1 ineinander krachten, als ein Hagelschauer die Fahrbahn in eine Eisbahn verwandelte. Eine Frau aus Bremen kam in ihrem Auto um, viele Menschen wurden verletzt. Drei Unfallopfer schwebten zwischenzeitlich in Lebensgefahr. Mehr als 120 Helfer waren stundenlang im Einsatz, um Opfer zu bergen, die Unfallstelle zu sichern und aufzuräumen. Als Hauptursache wurde schnell der Hagelschauer ausgemacht. Doch mit Vermutungen allein geben sich Polizei und Staatsanwaltschaft nicht zufrieden. Der Ablauf der Ereignisse muss genau rekonstruiert werden.

Wie werden Spuren gesichert?

„Vor Ort ist es wichtig, die Ereignisse möglichst genau zu dokumentieren, sowohl fotografisch als auch mit Skizzen“, erläutert Holger Meier von der Polizeidirektion in Ratzeburg. Sowohl die Schäden an den Fahrzeugen als auch eventuelle Bremsspuren würden genau vermerkt, Zeugenaussagen aufgenommen. „Alle Informationen werden im Anschluss zusammengetragen.“

Wann sind Gutachter gefragt?

Der Hamburger Unfallexperte und Leiter der DEKRA Unfallanalyse in Hamburg Thomas Hilker
Der Hamburger Unfallexperte und Leiter der DEKRA Unfallanalyse in Hamburg Thomas Hilker © HA | Dekra

Bei derart komplexen Unfällen werden externe Sachverständige hinzugezogen. „Eine umfassende Spurensicherung ist die wichtigste Grundlage, um zu einem verlässlichen Ergebnis zu kommen“, sagt Thomas Hilker, Leiter der Dekra-Unfall-Analyseabteilung in Hamburg. Der Idealfall sei, wenn alle beteiligten Fahrzeuge lange unverändert am Ort des Geschehens stehen bleiben. Zunächst lassen sich die Sachverständigen von der Polizei die Sachlage schildern. Dann geht es an die Beweisaufnahme. „Wir achten auf jede Kleinigkeit“, sagt der Unfallexperte. Spuren auf der Fahrbahn oder im Gelände, die Art des Fahrbahnbelags, Beschädigungen und Verletzungen bei Menschen sind wichtige Informationen. Bei Massenkarambolagen wird die Arbeit dadurch erschwert, dass viele Helfer im Einsatz sind, die Spuren verwischen oder verändern. Und wenn sich, wie bei Lasbek geschehen, die Wetterlage schnell verändert. Beide Faktoren seien „potenzielle Spurenvernichter“. Hilker: „Im Winter geht es da um die buchstäbliche Spur im Schnee.“ Die Lage könne binnen kurzer Zeit eine völlig andere sein. Spuren von Einsatzfahrzeugen müssten von denen der Unfallautos unterschieden werden.

Ist moderne Technik hilfreich?

Neue Fahrzeuge verfügen häufig über technische Helfer wie Fahrassistenten. Sie können das Fahrzeug in der Spur halten, eigenständig abbremsen, beschleunigen und ausweichen. Doch das hat nicht nur Vorteile. Wenn sie ins Spiel kommen wird die Unfallanalyse kompliziert. „Früher gab es im Grunde zwei Unfallursachen: menschliches oder technisches Versagen“, erklärt Thomas Hilker. Jetzt komme eine weitere dazu. Digitale Systeme können ausfallen, sogar von außerhalb gehackt werden und im schlimmsten Fall einen Unfall verursachen. Auch bei dem Unfall auf der Autobahn 1 war ein Tesla beteiligt, der über einen Autopiloten verfügt. Der soll allerdings laut Hersteller während des Unfalls ausgeschaltet gewesen sein. Sichergestellt wurde das Fahrzeug dennoch, zusammen mit sechs weiteren an dem Crash beteiligten Autos.

Wer stellt die Autos sicher?

Die Frage, ob und wann ein Fahrzeug sichergestellt wird, um es technisch näher zu untersuchen, entscheidet die Polizei nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft. Sachverständige können am Unfallort Hinweise auf mögliche Ungereimtheiten geben. „Möglicherweise gibt auch ein Unfallfahrer an, seine Bremsen hätten nicht funktioniert. Oder eine Zeugenaussage deckt sich nicht mit den gesicherten Spuren“, sagt Thomas Hilker. Wenn es technische Mängel gab, die als Ursache infrage kommen, würden die bei der näheren Begutachtung auch entdeckt.

Wo werden sie untersucht?

Die Landespolizei verfügt in Schleswig-Holstein über keine zentrale Sammelstelle für Unfallautos. „Die Fahrzeuge werden in der Regel in den Hallen der beauftragten Abschlepp-Unternehmen untersucht“, sagt Thomas Hilker. Im Hamburg verfügt die Polizei über eine eigene Halle, in der die Fahrzeuge von Sachverständigen unter die Lupe genommen werden können.

Wer klärt die Schuldfrage?

Je nach Sachlage ziehen Unfälle straf- oder zivilrechtliche Prozesse nach sich. Polizei und Unfallsachverständige sichern die Spuren, über die Schuldfrage entscheiden Gerichte. Selbst bei einem klassischen Auffahrunfall steht nicht von vornherein fest, wer die Schuld trägt. Nicht immer liegt diese beim Auffahrenden, wie häufig behauptet wird. Grundlage für die Aussage ist die sogenannte Anscheinsvermutung, dass der Hintermann nicht genügend Sicherheitsabstand eingehalten hat. Tatsächlich trägt immer derjenige die Schuld, der vorsätzlich oder fahrlässig gegen die Verkehrsregeln verstoßen und dadurch einen Unfall verursacht hat.

Wie lange dauert es?

Die Unterlagen zu einer Untersuchung wie der des Massenunfalls auf der Autobahn 1 dürfte wohl einen ganzen Aktenordner füllen. Die Analyse und das Zusammentragen aller Ergebnisse wird Wochen dauern. Ob neben der durch den Hagelschauer spiegelglatten Fahrbahn weitere Faktoren zu dem Ausmaß beigetragen haben, wird erst dann deutlich werden.

Wie oft kracht es in Stormarn?

Allein im Jahr 2015 ereigneten sich im Kreis Stormarn 5842 Unfälle. Bei 776 davon wurden 953 Menschen verletzt. Fünf Menschen wurden dabei getötet – vier Motorradfahrer und ein Fußgänger.