Bargteheide. Buchkritikerin Annemarie Stoltenberg empfiehlt in Bargteheide die schönsten und interessantesten Neuerscheinungen des Herbstes.
Ihr Leben spielt sich hauptsächlich im Liegen ab. Auf dem Sofa. Lesend, stundenlang. Annemarie Stoltenberg ist Literatur-Expertin. Über das Jahr verteilt liest die Hamburgerin Hunderte Bücher. Am morgigen Donnerstag, 12. November, stellt sie ihre persönlichen „Rolls-Royce unter den Neuerscheinungen“ in Bargteheide vor.
Mit viel Witz und Charme erklärt die 58-Jährige, was genau denn so großartig an den ausgewählten Büchern ist. Und welches Buch für wen geeignet wäre. Aus jedem Genre ist etwas dabei: Von Krimis über heitere Geschichten, Sachbücher, klassische Geschenk-Bücher, Schmöker – „so richtige Herzwärmer“, wie Stoltenberg sie nennt – bis hin zur sogenannten Weltliteratur. Also Bücher, die über nationale Grenzen hinweg als bedeutsam angesehen werden. „Mesopotamien von dem ukrainischen Autor Serhij Zhadan zählt für mich dazu“, sagt Stoltenberg.
Seit Mai hat sich Annemarie Stoltenberg durch die Neuerscheinungen gekämpft
Aber wer bestimmt eigentlich, ob ein Buch zur großen Literatur zählt? Und woran misst Annemarie Stoltenberg das? „Das kann ich gerade bei Mesopotamien nicht erklären. Es ist ein Gefühl“, sagt Stoltenberg, lächelt und wirkt, als fühle sie sich gerade ein wenig ertappt. „Es ist so: Sie nehmen das Buch in die Hand, schlagen es auf und wissen schlagartig: Das, was mich jetzt hier ansieht, ist Weltliteratur.“
Mesopotamien sei jedoch eines der wenigen Bücher, bei denen es ihr schwerfalle zu sagen, was diese literarische Größe ausmache – und dann erklärt Stoltenberg es doch ganz hervorragend. Es sind ihre leuchtenden Augen, der warme Tonfall, den ihre Stimme annimmt, während sie erzählt. „Das Buch ist sprachlich absolut herausragend. Es hat eigentlich keine Handlung, sondern porträtiert Menschen, die in einer ukrainischen Stadt leben und in ganz, ganz schwierigen Zeiten in einem ganz, ganz gebeutelten Land versuchen, über die Runden zu kommen.“ Das Buch beeindrucke durch seine Einfachheit, sowohl im Text als auch im Leben der Protagonisten. „Es ist reduziert auf das, was das Leben wirklich ausmacht: Glaube, Hoffnung und Liebe, und das in Kriegszeiten. Das Buch lehrt mich Demut“, sagt Annemarie Stoltenberg nachdrücklich und klopft dabei mit ihren Fingern auf das Cover. Es sei ein „absolut magischer Text“, von dem sie sich nicht mehr habe lösen wollen.
Buchvorstellung in Bargteheide
Musste sie aber: Denn Zeit ist Mangelware in Stoltenbergs Leben. Seit Mai dieses Jahres war sie damit beschäftigt, alle in Frage kommenden Bücher zu lesen, zu beurteilen oder auch auszusortieren. „Ich muss mich jeden Tag, von Montag bis Sonntag, mit irgendeinem Buch intensiv beschäftigen. Weil ich das sonst nicht schaffe bis zum Beginn der Buchvorstellungs-Saison“, erklärt die studierte Literatur- und Sprachwissenschaftlerin.
Annemarie Stoltenberg liest teilweise acht Stunden am Stück – Tag für Tag
Wie eine komplizierte Lebensdiät müsse man sich das vorstellen. Im Urlaub bedeutet das: Während andere Menschen Wander-, Fahrrad- oder Schlösserbesichtigungstouren machen, ist Annemarie Stoltenberg mit Lesen beschäftigt. Acht Stunden täglich, am Stück. An normalen Wochentagen sind es neben ihrer Arbeit für den Hörfunksender NDR Kultur und Fortbildungen, die sie für Buchhändler gibt, immerhin noch drei bis vier Stunden. Täglich. Also, mindestens.
Dass die 58-Jährige Bücher in einer Geschwindigkeit verschlingt, die selbst ihre Kollegen kaum nachvollziehen können, scheint ihr etwas unangenehm zu sein. „Ich sage schon gar niemandem mehr, wie viele Bücher ich pro Jahr tatsächlich von Anfang bis Ende lese – weil es mir ohnehin keiner glaubt“, sagt Stoltenberg und lacht herzlich dabei. Zeit für Freunde bleibe da nur wenig. Ihr Mann, Journalist und Buchautor, trage es mit Gelassenheit. „Während ich ein Buch lese, schreibt er schnell eins. Das passt ganz gut“, sagt die 58-Jährige und zwinkert fröhlich durch ihre braune Kunststoffbrille.
Stoltenberg-Anhänger kommen jedes Jahr aus Berlin zur Buchpräsentation
Neben dem Roman Mesopotamien stellt Stoltenberg in Bargteheide noch 17 weitere Werke vor. Darunter ein launiges Buch von vier französischen Autorinnen, das es bereits auf die deutsche Bestsellerliste geschafft hat. In „How to be Parisian“ wollen die Vier vermitteln, was den besonderen Chic der Pariserinnen ausmacht – was auf den Leser durchaus abfärben könnte.
Veranstalter der Präsentation am Donnerstag ist die Bargteheider Buchhandlung: „Seit zehn Jahren kommt Annemarie Stoltenberg im November zu uns“, sagt Geschäftsinhaberin Ulrike Herberg. „Mit ihrer Auswahl trifft sie den Geschmack der Besucher immer ziemlich genau.“ Unter den Zuhörern gebe es mittlerweile sogar so eine Art Groupies: Ehemalige Bargteheider, die mittlerweile in Berlin leben, aber jedes Jahr zur Präsentation kommen.
Den November über ist bei Stoltenberg noch Hochkonjunktur. Sie tourt durch Norddeutschland und ist fast jeden Tag an einem anderen Ort zu Gast, um norddeutsche Bücherwürmer mit ihren Empfehlungen zu versorgen.