Ahrensburg/ Bad Oldesloe . Immer mehr minderjährige Flüchtlinge kommen ohne Begleitung in den Kreis. Das Problem daran: Sie brauchen mehr Betreuung als Erwachsene.
Durchtrainierter Körper, gerade Haltung und ein ernster Blick – so sitzt Hammed auf seinem Stuhl und erzählt, wie er vor zwei Jahren als 15-Jähriger nach seiner Flucht aus Nigeria in Stormarn angekommen ist. „Ich hatte Angst, vermisste meine Familie und kannte niemanden. Ich hatte so viele Sorgen. Es war alles zu viel.“
Heute ist er 17. Er ist einer der sogenannten minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge in Stormarn. Mit der Woche für Woche steigenden Zahl von Menschen, die aus Krisengebieten in den Kreis kommen, steigt auch deren Zahl. 1245 Asylbewerber leben zurzeit hier. Im Juni 2014 waren es noch 721. 40 kommen jede Woche dazu.
Unter ihnen eben auch Jugendliche, die allein sind. Zwei bis drei wöchentlich sind es zurzeit, sagt Birgit Brauer, Leiterin des Hauses St. Josef in Bad Oldesloe, in dem alle unbegleiteten Jugendlichen untergebracht werden. Um die acht pro Jahr waren es in den vorigen Jahren, sagt Jochen Will vom Kreisjugendamt, genaue Zahlen kenne er nicht. „Da die Zahl keine Relevanz hatte, haben wir sie nicht erhoben.“ Heute sieht das anders aus. „Die Zahlen steigen“.
Kieler Verein fordertengmaschige Betreuung
Das Kreisjugendamt hat damit begonnen, sich auf die künftige Situation einzustellen: „Zurzeit finden Sondierungsgespräche zur Kapazitätserweiterung statt. Darüber hinaus werden Vereinbarungen für mögliche Notfallsituationen getroffen.“
Die jungen Flüchtlinge benötigen eine engmaschige Betreuung, sagt Ole Vent vom Kieler Verein Lifeline des Flüchtlingsrats Schleswig Holsteins. „Sie sind oft traumatisiert und auf langen, gefährlichen Fluchtrouten nach Deutschland gekommen.“
Selemun sitzt schüchtern auf seinem Stuhl und erzählt von seiner Flucht. Drei Jahre war der heute 17-Jährige unterwegs, nachdem er seine Heimat, Eritrea, verlassen hatte. Seine Flucht führte ihn durch Äthiopien, den Sudan und Libyen. Erst nach Italien und von dort nach Deutschland. Der zierliche Junge mit seinem umgedrehten Cappi auf dem geflochtenem Haar sagt: „Ich hatte Angst vor dem Meer. Einmal ist eine Schiffschraube kaputt gegangen.“ Selemun floh, als das Militär seinen Bruder als Soldaten und ihn als Sanitäter einziehen wollte. Sein Bruder floh nach Asien. Seine Eltern sind noch in Eritrea.
Ängste, traumatische Erlebnisse, strapazierende Fluchtrouten, all das haben minderjährige Flüchtlinge hinter sich, wenn sie ankommen. Die Jugendlichen haben niemanden an ihrer Seite, der für sie die Verantwortung übernimmt.
Ihre Situation beschreibt Lifeline auf seiner Internetseite: „Kinder und Jugendliche sind allein nicht in der Lage, das Erlebte zu verarbeiten. Sie brauchen besondere Hilfe und Betreuung sowie das Gefühl, willkommen zu sein. Sie brauchen Menschen, die ihre Interessen vertreten. Erst dann haben sie eine Chance auf eine positive Entwicklung.“
So sieht das auch Asija Bertram, eine 31 Jahre alte Erzieherin im Haus St. Josef: „Unsere Aufgabe ist es, ihnen einen Schutzraum zu geben und ihre Gesundheit zu gewährleisten. An erster Stelle steht, für sie da zu sein.“ So besserte sich die Situation Hammeds: „Die Erzieher waren nett, ich ging zur Schule und fand Freunde.“ Sein größter Wunsch hat sich aber seit seiner Ankunft nicht geändert: „Ich wünsche mir, meine Familie wiederzusehen.“ Wo sie ist, weiß er nicht. Seit er geflohen ist, hat er keinen Kontakt.
Zum Schutz der Jugendlichen gehören im Jugendhilfesystem verschiedene Personen: Da ist der Vormund, der eingesetzt werden muss, sobald der Jugendliche ankommt. Da sind das Jugendamt und die Einrichtung, in der die Jugendlichen leben und sozialpädagogisch betreut werden. Vor allem die Unterbringung stellt zunehmend ein Problem dar: St.-Josef-Leiterin Brauer sucht bereits nach geeignetem Wohnraum, ist im Gespräch mit anderen Einrichtungen. Wichtig sei auch, dass die jungen Flüchtlinge Deutsch lernen und schnell in DaZ-Klassen (Deutsch als Zweitsprache) kommen, um anschließend eine Schule besuchen zu können. „Schon jetzt sind die Klassen sehr voll, und es ist zunehmend schwierig, Plätze zu bekommen.“ Wohnraum, Sprachförderung – doch die Herausforderung ist noch komplexer: Angela Landwehr, Richterin am Amtsgericht Ahrensburg, kennt ein weiteres Problem: Vormunde zu finden.
In Stormarn gibt es zu wenigehrenamtliche Vormunde
Eine vielerorts verbreitete Praxis, Amtsvormunde einzusetzen, scheut sie, denn der Gesetzgeber will es anders: Das BGB sieht Amtsvormundschaften nur für den Fall vor, dass ehrenamtliche Einzelvormunde nicht vorhanden seien. Ehrenamtliche Vormunde werden klar bevorzugt. Die gibt es im Kreis Stormarn aber nicht. Es fehlt eine Institution im Kreis, die sich der Aufgabe annimmt, sie zu schulen und auf die besonderen Aufgaben vorzubereiten.
Der Vormundschaftsverein Lebenslinien in Todendorf bietet zwar eine Alternative: Hier sind Vereinsvormunde tätig, die beruflich unter anderem minderjährige Flüchtlinge rechtlich vertreten. Doch Gesa Perthes, Geschäftsführerin des Vereins, sagt: „Die Kapazitäten sind ausgeschöpft. Unsere Mitglieder können nicht jede Woche zwei, drei Jugendliche mehr aufnehmen. Wer soll es dann machen?“ Aus Sicht des Vereins ist das Jugendamt nicht die richtige Lösung: „Amtsvormunde können in einen Interessenkonflikt geraten,“ sagt Gesa Perthes. In der Tat: Es könnte passieren, dass jemand bei seiner eigenen Behörde einen Antrag stellen müsste.
Wie wichtig Stabilität für die Jugendlichen ist, zeigt sich am Beispiel der Ehemaligen des Hauses St. Josef. „Fast alle haben Abitur gemacht und sind jetzt in einer Ausbildung oder arbeiten“, sagt Erzieherin Bertram. Und auch: „Seit acht Jahren arbeite ich hier. Noch nie hatten wir so viele Flüchtlinge. Das ist die schönste Zeit.“