Reinbek. In unserer Serie treffen wir Menschen auf ihrer Lieblingsbank: Karl-Hermann Tennert, 93, vom Reinbeker Stadtorchester.
Als Kind, da wollte Karl-Hermann Tennert professioneller Musiker werden. Oder Sportler. Und studieren, das wollte er auf jeden Fall. Lange ist’s her. Tennert, inzwischen 93 Jahre alt, weiß: Keiner seiner Kindheitsträume ist in Erfüllung gegangen. Er sagt: „Der Zweite Weltkrieg hat mir drei Laufbahnen verdorben: die akademische, die sportliche und auch die musikalische.“
Obwohl: Einer der Wünsche aus seiner Kindheit ist irgendwie doch noch Realität geworden, im Alter von 47. Im Jahr 1969 kam Tennert ins Gespräch mit Kurt Goj, der drei Jahre zuvor das Reinbeker Stadtorchester gegründet hatte. „Er überredete mich dazu, einzutreten“, sagt Tennert. Seit 46 Jahren spielt er im Reinbeker Ensemble Trompete. Mittlerweile ist er das älteste Mitglied des Stadtorchesters, für dessen Organisation er jahrzehntelang zuständig war. Tennert wohnt in Wentorf, nur einige Kilometer vom Reinbeker Schloss entfernt – dem Ort, an dem er am liebsten auftritt.
Das erste Instrument, das Tennert in die Hände bekam, war ein Infanterie-Horn aus dem Ersten Weltkrieg. „Es hing über dem Schreibtisch meines Vaters. Ich war noch ein kleines Kind“, sagt er. Musik faszinierte ihn schon immer. „Als ich klein war, gingen meine Eltern mit mir auf ein Stadtfest. Während die anderen Kinder mit Spielen und Schaukeln beschäftigt waren, stand ich dort, wo die Musik gespielt wurde, und hörte einfach nur zu.“ Der Musiklehrer am Gymnasiums habe ihm schließlich beigebracht, Trompete zu spielen. „Da war ich zwölf Jahre alt“, sagt er. Für ihn stand damals fest: Musik ist das, was er sein ganzes Leben machen wollte.
Den Eltern missfiel, dass der Junior Musiker werden wollte
Seine Eltern waren allerdings anderer Meinung. Der 93-Jährige überlegt kurz, wie er ihren Standpunkt am Besten wiedergeben kann, „ohne meine Eltern dabei zu verletzen“. „Der Beruf des Musikers war damals einfach nicht besonders hoch angesehen“, sagt er schließlich. „Deswegen wollten sie, dass ich eine akademische Laufbahn einschlage.“
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges geriet die Meinungsverschiedenheit zwischen Eltern und Kind in Vergessenheit. Tennert wurde einberufen, seine Leidenschaft war plötzlich nicht mehr ganz so bedeutsam. Viele Jahrzehnte lang berührte er kein Instrument mehr. „Ich stieg schnell zum Berufsoffizier auf. Die meiste Zeit, während der ich im Krieg war, verbrachte ich aber verwundet oder krank im Lazarett. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass ich den Krieg überhaupt überlebte“, sagt Tennert. „Als die anderen Soldaten östlich nach Stalingrad marschierten, fesselte mich eine Infektionskrankheit über Monate ans Bett. Und so blieb ich ich in Deutschland.“
Der 93-Jährige unterbricht seine Erzählung für einige Sekunden, starrt ins Leere und denkt nach. Ein sanftes Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab, bevor er beginnt seine Geschichte fortzusetzen. „Mein Leben ist im wesentlichen durch Schutzengel bestimmt worden“, sagt er. „Das fing schon mit meiner Geburt an, die mit Komplikationen verlief und ging im Kindesalter weiter, als ich mit fünf Jahren fast ertrunken bin und im Alter von sieben Jahren beinahe von einer Schnellbahn überfahren wurde, weil ich meinen entlaufenem Hund auf die Gleise gefolgt bin. Und Schutzengel hatte ich auch beim Militär.“
Nach Kriegsende musste Tennert einem sogenannten Mangelberuf nachgehen. „Ich arbeitete bei einem Gärtner, hatte kaum etwas zu essen, geschweige denn ein Dach über dem Kopf“, erzählt er. „Das Blatt wendete sich, als ich 1946 durch einen Bekannten bei der Polizei in Hamburg landete, dort hinzog und 36 Jahre lang als Polizist arbeite. Das war eine sehr schöne Zeit.“ Anfang der 50er-Jahre lernte Karl-Hermann Tennert seine Frau kennen, mit der er 1990 nach Wentorf zog. Als er beginnt, die Geschichte ihres Kennenlernens zu erzählen, wandern die Mundwinkel des 93-Jährigen ganz nach oben: „Ich fuhr mit der Hamburger S-Bahn. An einer der Haltestellen sprang eine junge, hübsche Dame auf den anfahrenden Zug und wurde dabei leicht in der Tür eingeklemmt. Damals konnte man die Bahntüren noch mit der eigenen Muskelkraft aufstemmen, und genau das tat ich. Sie fiel mir dann gewissermaßen direkt in die Arme.“
Tennert erzählt gern. Er habe das große Glück, trotz hohen Alters geistig noch topfit zu sein, sagt er. Dadurch fühle er sich weitaus jünger, als er eigentlich ist.
Früher organisierte Tennertganz viel für das Stadtorchester
Als Karl-Hermann Tennert dem Reinbeker Stadtorchester beitrat, lag der Zeitpunkt, zu dem er das letzte Mal musiziert hatte, mehr als 30 Jahre zurück. „Verlernt hatte ich aber nichts.“ sagt er und schmunzelt. „Musik machen ist wie Fahrrad fahren.“ Das Reinbeker Ensemble sei für Tennert wie eine zweite Familie. „Meine Frau starb vor drei Jahren an einem Herzinfarkt. Nach ihrem Tod erschien ich einige Zeit nicht mehr beim Stadtorchester, ich brauchte eine Pause“, sagt er. „Als ich wieder zu den Proben kam, klopfte mir ein Zwölfjähriger auf die Schulter und sagte: ‚Mensch, Karl-Hermann, schön, dass du wieder da bist.‘ Im Orchester herrscht ein wirklich schöner Geist, wir sind mehr als nur eine Gruppe von Musikern.“
So familiär sei es aber nicht immer zugegangen. Als Tennert dem Orchester beitrat, bestand es nur aus 14 Männern. „Davon waren die Hälfte Profis, früher zum Beispiel als Militärmusiker tätig“, sagt er. „Heute ist das ja ganz anders. Seit zehn Jahren sind auch Jugendliche Teil unseres Orchesters. Die Hälfte unserer Musiker ist unter 20 Jahre alt. Sie alle sind sehr talentierte, großartige Menschen.“
Inzwischen sei Tennert nicht mehr so aktiv im Orchester tätig. „Früher habe ich viel Organisatorisches gemacht, mich zum Beispiel um die Planung von Terminen gekümmert“, sagt er. „Heute machen das Kurt Gojs Söhne.“ Mit 80 habe er seine Kompetenzen an sie weiter gegeben.
Als Karl-Hermann Tennert seine Geschichte abschließt, macht er das, was er schon die ganze Zeit getan hat: Er lächelt. „Freunde fragen mich, wann ich damit aufhöre, Musik zu machen.“ Dann lacht der 93-Jährige laut, sagt: „Ich antworte ihnen dann, dass ich selbst auf meiner eigenen Beerdigung noch Trompete spielen werde.“