Manfred Schönbohm fährt seit 22 Jahren an mehr als 200 Tagen im Jahr von Reinfeld nach Hamburg und zurück.
Für Manfred Schönbohm ist es doppelte Qualitätszeit. Morgens nutzt er die Ruhe, um die Tageszeitung – das abonnierte Abendblatt – zu lesen, und am Abend studiert er entspannt noch ein paar Akten. Die wertvolle Zeit, die Schönbohm zu schätzen lernte, ist sein täglicher Arbeitsweg. Er ist einer von 31.000 Menschen, die täglich aus Stormarn nach Hamburg und zurück fahren. Eine 2013 veröffentlichte Haspa-Studie des Weltwirtschaftsinstituts über Berufspendler in der Metropolregion, registrierte für Stormarn 52.900 Auspendler und 42.544 Einpendler.
Manfred Schönbohm hat einen besonders weiten Weg. Er wohnt im Norden des Kreises in der Stadt Reinfeld und fährt werktäglich nach Hamburg und zurück. Klingt dramatischer, als es ist. Denn Schönbohm nutzt Regionalbahn und Regionalexpress. Er braucht bis zum Hamburger Hauptbahnhof nur etwa eine halbe Stunde. Von dort fährt er mit der U 2 zur Mundsburg, wo er in der Sozialbehörde arbeitet. Von Tür zu Tür dauert das etwa eine Stunde.
Rund 250 Menschen warten um 7.30 Uhr auf dem Bahnsteig
Donnerstagmorgen, kurz nach halb acht am Reinfelder Bahnhof. Der Bahnsteig ist leer, ebenso der Vorplatz. Nur die vielen Autos auf dem Park & Ride-Platz lassen darauf schließen, dass bereits einige Reinfelder unterwegs sind. Viel Zeit, sich umzuschauen ist nicht, denn Manfred Schönbohm fährt rasant mit dem Fahrrad vor. Er ist heute später als sonst dran. „Bis 9 Uhr muss ich in Hamburg an meinem Arbeitsplatz sein“, sagt der 60-Jährige, während er sein Fahrrad ankettet.
Noch mehr Zahlen
Wir gehen auf den Bahnsteig, der sich innerhalb der nächsten zehn Minuten mit Menschen füllt, die auf den Regionalexpress um 7.53 Uhr nach Hamburg warten. Manfred Schönbohm begrüßt mehrere Bekannte. Ein paar Worte werden gewechselt, der Ort für längere Gespräche ist das jedoch nicht. Am frühen Morgen bleiben die meisten Reisenden lieber für sich. Als der Zug einfährt, sind es mehr als 250 Menschen, die warten. Die aus Lübeck kommenden Waggons sind schon gut besetzt, doch es gibt noch freie Plätze. „Wenn ich früher fahre, ist es schwieriger. Im Winter müssen einige Fahrgäste sogar stehen“, erzählt Schönbohm.
Mehr als 200 Tage im Jahr fährt er die Strecke hin und zurück, seit 22 Jahren. Damals ist er mit seiner Familie nach Reinfeld gezogen: „Wir wohnten vorher in einer Wohnung in Poppenbüttel, die zu eng wurde, als unsere zweite Tochter geboren wurde.“ Die Schönbohms suchten im Hamburger Umland nach einem Haus, das ihnen gefiel und das sie sich leisten konnten. Der finanzielle Aspekt habe eine große Rolle gespielt, doch es war zugleich eine bewusste Entscheidung für die Kleinstadt in ländlicher Umgebung: „Das ist hier eine andere Welt. Man hat es nicht weit, wenn man abends noch raus in den Wald oder an einen See will“, sagt Schönbohm, der wie seine Frau aus Stormarn stammt – er aus Oststeinbek, sie aus Bad Oldesloe.
Schönbohm genießt die kleinstädtische Umgebung mit Nähe zur Metropole
Das Ehepaar fand in Reinfeld ein älteres Gebäude, das seinen Wünschen entsprach: ein Haus mit 110 Quadratmeter Wohnfläche auf einem 1000 Quadratmeter-Grundstück, zentral gelegen. Bis zum Bahnhof ist es nur ein halber Kilometer. „Wir wollten nicht dort wohnen, wo man ins Auto steigen muss, um noch rasch einen Liter Milch zu kaufen. Also nicht im Dorf, sondern in einer kleinstädtischen Umgebung mit guter Anbindung an die überregionalen Verkehrswege“, sagt Schönbohm.
Den Entschluss haben die Schönbohms nie bereut. „Wir haben hier das Beste zweier Welten“, sagt er und meint die Qualität ländlichen Lebens und die Infrastruktur einer Metropolregion, die schnelle Zugänge zu den großen Städten ermöglicht. Was das Ehepaar ausgiebig nutzt – ebenso, wie es die Ruhe zu Hause genießt.
Manfred Schönbohm schwärmt von den Möglichkeiten, die sich an seinem Wohnort ergeben: Waldspaziergänge mit dem Hund („Erholung für die Seele“), Fahrradfahrten, Touren mit dem Zweierkajak auf der Trave, frühmorgendliche Ausflüge nach Niendorf an der Ostsee: „Wir brauchen mit dem Auto nur 25 Minuten dorthin. Wir sind oft die Ersten, die ankommen. Dann sitzen wir am leeren Strand, essen Fischbrötchen und stellen uns vor, dass es nichts Schöneres gibt“, sagt Schönbohm und vergisst nicht zu erwähnen, wie nah das großstädtische Leben ist: „Kultur liegt mit dem Theater in Lübeck quasi vor der Haustür, ist aber ebenso gut mit der Regionalbahn in Hamburg erreichbar.“
Manfred Schönbohm ist Leiter des Referats für Soziale Entschädigungen in der Hamburger Sozialbehörde. Zu seiner Arbeit gehört die Betreuung von Opfern des NS-Regimes. Der Volljurist ist ein sozial engagierter Mensch mit guten Kontakten. Beides nützt auch Reinfeld. Schönbohm war Mitinitiator der ersten Stolpersteine in der Stadt, die im vergangenen Jahr für die NS-Opfer Carl Harz und Richard Minkwitz gesetzt wurden. Und Schönbohm ist es auch zu verdanken, dass eine prominente Zeitzeugin wie Esther Bejarano, die im KZ Auschwitz im Mädchenorchester spielte, in Reinfeld auftritt.
Er zahlt für seine HVV-Proficard monatlich 118 Euro
Auch das lohnt den Aufwand des täglichen Pendelns, den Schönbohm nicht als solchen empfindet. „Auf der Hintour habe ich schon den bevorstehenden Tag im Kopf. Das ist oft nützlich. Und die Rückfahrt ist die schönste Zeit, weil sie beim Runterkommen hilft und der Entspannung dient.“
118 Euro monatlich zahlt er für seine HVV-Proficard, die im Großraum Hamburg gültig ist. Einen kleinen Bonus schätzen die Schönbohms ganz besonders: Dass auf der Karte am Wochenende ein Erwachsener und bis zu drei Kinder unter 14 Jahren kostenlos mitfahren dürfen. Das Ehepaar Schönbohm – die Ehefrau pendelt nach Lübeck, wo sie als Schulleiterin arbeitet – nutzt diesen Service gern, zum Beispiel für Opernbesuche in Hamburg.
Sein Auto benutzt er nur in den seltensten Fällen für die 50 Kilometer nach Hamburg. „Alltags ist das keine wirkliche Alternative.“ Es folgt eine Liebeserklärung an seine Wahlheimat: „Gefühlt ist Reinfeld ein Dorf, eine 8500-Einwohner-Stadt, die sozial intakt ist und ein kulturelles Netzwerk mit mehr als 40 Vereinen bildet. Darüber hinaus haben wir, als unsere Töchter noch zur Schule gingen, vom Netzwerk mit meiner Schwiegermutter in Bad Oldesloe profitiert. Hier haben sich alte Familienstrukturen erhalten, das wäre in der Großstadt nicht so selbstverständlich.“
Die Zeit ist rasch vergangen, der Regionalexpress fährt in Hamburgs Hauptbahnhof ein. Schönbohm schließt mit einem Bekenntnis: „Ich bin Stormarner und Reinfelder aus Überzeugung.“ Sagt’s und verschwindet kurz darauf im Gewühl der Großstadt.