Wer sein Kind in einer heilpädagogischen Wohnstätte betreuen lässt, wird womöglich auf Sozialhilfe-Niveau gestutzt: Einkommen, Ersparnisse, Lebensversicherungen und Altersvorsorge werden herangezogen.
Ahrensburg. Friederike ist von Geburt an das Sorgenkind ihrer Familie. Die Elfjährige kann nichts dafür, ihre Gene sind schuld daran: Friederike hat das Down-Syndrom, außerdem autistische Züge. Als wenn das Schicksal ihre Familie damit nicht schon hart genug getroffen hätte – nun droht ihr auch noch die Verarmung. Auch dafür kann das Mädchen mit den langen, braunen Haaren nichts, die Auslegung der Gesetze durch Richter und Behörden ist schuld daran.
Friederike bekommt von alldem nichts mit. Sie lebt seit anderthalb Jahren in einer heilpädagogischen Wohngruppe in Siek und fühlt sich dort offenbar ziemlich wohl. „Sie ist richtig aufgeblüht, seit sie dort ist“, sagt Sabine Klein, 39, Friederikes Mutter. Das könnte nun zu einem riesengroßen Problem für die Familie werden. Warum das so ist, lässt sich mit zwei Sätzen erklären: Friederikes Leben in Siek wird nach den einschlägigen Vorschriften des Sozialgesetzbuches (SGB) XII vom Kreissozialamt in Bad Oldesloe mitfinanziert. Und wer Sozialleistungen bezieht, der wird auch qua Gesetz wie ein Sozialhilfeempfänger behandelt.
Es ist ein Problem, das nicht nur Familie Klein beschäftigt. Volker Klein, 42, Friederikes Vater, schätzt, dass in Stormarn insgesamt zehn Familien in vergleichbarer Situation betroffen sein dürften. Von einer ähnlichen Größenordnung geht Ursula Johann aus, die Geschäftsführerin der Lebenshilfe Stormarn. In dem Verein sind zum einen Eltern behinderter Kinder organisiert, zum anderen ist er Träger von Wohneinrichtungen, unter anderem von der in Siek. Johann: „Es ist eine totale Katastrophe, dass Otto-Normalverdiener, die ihr Kind betreuen lassen müssen, plötzlich zur Armut verdammt sind.“
Ein niedersächsisches Gericht traf eine entsprechende Entscheidung
Plötzlich deshalb, weil das Kreissozialamt Sachverhalte seit Kurzem anders bewertet als in der Vergangenheit. Das liegt an einer Eilentscheidung des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (Az: L 8 SO 215/11 B ER) in Celle, die aus dem Oktober 2011 stammt. „Wir sind wegen dieser veränderten Rechtssprechung in die Überprüfung der Bewilligungsgrundlagen eingestiegen“, sagt Imke Colshorn, Leiterin des Fachbereichs Soziales und Gesundheit bei der Kreisverwaltung.
Die Frage aller Fragen lautet nun, welcher Zweck mit Friedrikes Aufenthalt in Siek verfolgt wird. Ist es eine „Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung“? Oder dient er der „Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in der Gemeinschaft“? Die erste Alternative ist ein Ausnahmetatbestand im SGB XII, der eine Zahlung durch die Eltern nur in Höhe der sogenannten häuslichen Ersparnis vorsieht. Das ist der Betrag, den Eltern sparen, wenn ihr Kind nicht zu Hause lebt. „Wo man aber zu der Einschätzung gelangt, dass es um die generelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht, trifft das Sozialhilferecht vollumfänglich“, erklärt Imke Colshorn. Bislang ist ihre Behörde bei Friederike und in vergleichbaren Fällen von der Alterative Schulbildung ausgegangen.
Die Celler Richter aber haben in dem Fall, den sie entschieden haben und den die Oldesloer Behörde nun für vergleichbar hält, festgestellt: „Allerdings geht es hier in erster Linie darum, der Antragstellerin die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu erleichtern oder zu ermöglichen. Ein direkter Bezug zum Schulbesuch besteht nicht.“
Die neue Bewertung soll rückwirkend zum 1. Januar gelten
Im Ergebnis haben die betroffenen Eltern einen Anhörungsbogen bekommen, um sich zu äußern. Die Zahlen, mit denen die Ahrensburger Familie Klein konfrontiert worden ist, sind niederschmetternd: Statt einer Beteiligung von knapp 300 Euro aus eigener Tasche sollen sie künftig knapp 2400 Euro monatlich beisteuern. Bei einem Bruttogehalt von rund 4500 Euro monatlich, das die pharmazeutisch-technische Assistentin und der Personaldisponent nach eigenen Angaben verdienen, erscheint das eigentlich wie ein Ding der Unmöglichkeit.
Ist es aber nicht, denn die Richter in Celle bringen es wie folgt auf den Punkt: Nicht nur das Einkommen sei zu berücksichtigen, sondern auch das „unter Beachtung von § 90 SGB XII ermittelte verwertbare Vermögen“. Ursula Johann zählt auf: „Zu diesem verwertbaren Vermögen gehören Ersparnisse mit Ausnahme eines Freibetrags von knapp 4000 Euro, Bausparverträge, Lebensversicherungen und betriebliche Altersvorsorge.“ Wohneigentum ist geschützt, allerdings nur so lange es „angemessen“ erscheint.
Sozialamts-Chefin Colshorn betont, dass die veränderte Grundlage durchaus nicht dazu führe, dass alle betroffenen Eltern schlechtergestellt seien. „Es gibt auch Fälle, in denen weniger gezahlt werden muss als zuvor.“ Das dürfte der Logik nach auf einen Personenkreis zutreffen, der über ein außerordentlich geringes Einkommen verfügt und keine nennenswerten Ersparnisse hat.
Die Kleins haben unterdessen noch eine andere Rechnung offen. Weil die neue Bewertung ihres Falles rückwirkend zum 1. Januar gelten soll, der Anhörungsbogen aber erst kürzlich eingetroffen ist, stehen sie beim Kreis Stormarn schlimmstenfalls schon jetzt mit 15.000 Euro in der Kreide. Noch haben sie nicht gezahlt. Die Lebenshilfe ist bislang in Vorleistung getreten.
Imke Colshorn verspricht unterdessen, das Amt werde mit allen Eltern im Dialog nach einem Ausweg aus der Situation suchen.