Margit Baumgarten spricht über den schweren Verdacht gegen Ahrensburger Geistliche und die Folgen sexuellen Missbrauchs für die Opfer.
Hamburger Abendblatt:
Seit Wochen ermittelt die Kirche intern wegen der Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs an Schutzbefohlenen in der Ahrensburger Kirchengemeinde. Wie viele Fälle sind Ihnen bisher bekannt?
Margit Baumgarten:
Wir unterscheiden zwischen Gerüchten und konkreten Fällen. Beim Kirchenamt Kiel haben sich sieben Personen gemeldet. Davon liegen drei oder vier protokollierte Aussagen vor. Diese reichen aus, um ein Disziplinarverfahren zu eröffnen.
Hat sich der zweite unter Verdacht stehende Ruhestandsgeistliche, dem sexueller Kontakt zu einer 17- und einer 18-Jährigen Anfang der 80-er Jahre vorgeworfen wird, Ihnen gegenüber geäußert?
Nein, hat er noch nicht. Als Pröpstin bin auch nicht ich zuständig, sondern das Kirchenamt.
Wie genau lauten die Vorwürfe: sexueller Missbrauch oder verbotene sexuelle Kontakte zu Minderjährigen?
Es geht um sexuelle Übergriffe im weitesten Sinne. Ich betone: Es sind Vorwürfe, es gilt zunächst die Unschuldsvermutung.
Ist die Staatsanwaltschaft über alle Fälle informiert?
Das können wir im Einzelfall nicht sagen. Es gibt Fälle beim Kirchenamt, andere beim Staatsanwalt. Es sind nicht immer dieselben. Bei unserer externen Opferberaterin haben sich vier Opfer gemeldet. Alle Fälle, die wir bisher kennen, haben sich Ende der 70er- und in der ersten Hälfte der 80er-Jahre abgespielt.
Das bedeutet, Sie kennen bis heute nicht die genaue Opferzahl?
So ist es. Wir können nur auf das reagieren, was schriftlich niedergelegt ist. Wir fordern Zeugen und Betroffene auf: Macht eine Aussage, sonst kann die Kirche nicht darauf reagieren.
Haben Sie persönlich mit Opfern gesprochen?
Ja, das war sehr ergreifend. Ich spürte, welche Überwindung es die Menschen kostet, ihr Schicksal öffentlich zu machen. Sie werden wieder mit ihrer Scham und ihrem Leid konfrontiert. Aber es ist gut, dass sie sich das jetzt von der Seele reden.
Reden allein hilft?
Nein, es braucht auch Konsequenzen. Aber für manche ist das Gespräch das Äußerste, das sie sich im Augenblick an Öffentlichkeit vorstellen können.
Beschreiben Sie bitte die Atmosphäre in der Ahrensburger Gemeinde.
Da herrschen Ohnmacht, Verzweiflung, Aufbruchstimmung - von jedem etwas. Der Schock sitzt tief. Aber es gibt den festen Willen, die Geschehnisse aufzuklären und dafür zu sorgen, dass so etwas möglichst nie wieder passiert.
Wie sieht es im Kirchenvorstand aus?
Auch der steht unter Schock. Es kostet alle Überwindung, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Alle tragen jetzt Verantwortung in einer Geschichte, die sich in der Vergangenheit abspielte, und die jetzt Wellen schlägt. Und es geht um Menschen, mit denen viele vertrauensvoll zusammenarbeiteten. Es gibt Uneinigkeit im Vorgehen in einigen Punkten, aber ein gemeinsames Bemühen um Aufarbeitung.
Sind Sie von der Schuld des Hauptverdächtigen überzeugt?
Nicht, bevor das nicht belegt ist. Aber die Opferaussagen sind sehr glaubwürdig. Das Kirchenamt lädt ihn vor. Dann wird er eine Aussage machen müssen.
Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Zurzeit ermitteln Mitarbeiter des Kirchenamtes. Sie sammeln Zeugenaussagen. Manche Opfer bitten sich noch Zeit aus. Wie lange das dauert, wissen wir nicht. Dann geht es aller Wahrscheinlichkeit nach vors Kirchengericht, das seinen Sitz in Hamburg hat. Dort gibt es ein unabhängiges Gerichtsverfahren mit Richter, Ermittlungsführern, Beschuldigtem und Verteidiger. Das Gericht fällt ein Urteil. Ich gehe aber nicht davon aus, dass es in diesem Jahr noch zu einem Urteilsspruch kommt.
Womit muss der Hauptverdächtige rechnen? Und was droht seinem ehemaligen Kollegen, gegen den es nun auch Vorwürfe gibt?
Das Äußerste ist die Aberkennung der Ordinationsrechte und Kürzung der Pension.
1999 hat sich ein Opfer an die damalige Pröpstin gewandt. Diese, so lauten Vorwürfe, habe Zeugen unter Druck und alle Hebel in Gang gesetzt, dass der Skandal nicht in die Öffentlichkeit dringt. Was wissen Sie darüber?
Diese Vorwürfe kann ich nicht bestätigen. Die Straftaten waren ja bereits 1999 verjährt. Den Pastor aus der Gemeinde herauszunehmen, war im damaligen Zusammenhang die konsequenteste Reaktion.
Tragen die Pröpstin und weitere Mitwisser von damals nicht eine Mitschuld an möglichen weiteren Übergriffen?
Soweit ich weiß, hat sich damals nur eine Frau bei der Pröpstin gemeldet. Sie sprach von weiteren Opfern. Der Bitte, diese mögen sich melden, kam niemand nach. Der Fall hat sich damals nicht in dieser Dimension erschlossen. Es herrschte ein anderer gesellschaftlicher Umgang mit dem Thema. Ich weiß von einer Familie, deren Kind betroffen war, die sich bewusst entschied, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie wollte kein Verfahren, um ihr Kind zu schützen.
Noch einmal: Hat sich die Pröpstin Ihrer Ansicht nach damals richtig verhalten?
Aus heutiger Sicht würde man mit dem Fall anders umgehen. Das betrifft aber nicht nur einzelne Personen. Die Dimension der Geschichte stellt sich erst im Verlauf heraus. Jeder fragt sich im Moment, ob er hätte anders handeln sollen.
Erwägen Sie ein Ermittlungsverfahren gegen die Pröpstin?
Dafür ist das Kirchenamt zuständig.
Wie erklären Sie sich, dass offenbar viele Menschen etwas wussten, aber niemand handelte?
Ich glaube, es gehört zum System des Missbrauchs, wie bisher damit umgegangen worden ist. Bedenken Sie die hohe Dunkelziffer auch im privaten Bereich. Früher wurde darüber nicht gesprochen. Dennoch verstehe ich nicht, warum niemand Anzeige erstattete.
Waren mögliche Missbrauchsfälle schon 1999 bei den Ahrensburger Pastoren oder sogar im Kirchenvorstand Thema?
Dazu kann ich nichts sagen, weil ich damals nicht im Amt war. In den Kirchenvorstandsprotokollen findet sich nichts dazu.
Das Kirchenamt hat den Pastor 1999 in eine Projektstelle nach Neumünster versetzt. Hinterfragt das Kirchenamt heute, was dort geschah?
Das Kirchenamt ermittelt derzeit. Laut Auskunft des Gefängnisdirektors in Neumünster war er dort nicht als Seelsorger in der JVA eingesetzt. Er sollte ein Konzept für die Gefängnisseelsorge in der JVA Schleswig und Neumünster entwickeln, mit Dienstsitz in Neumünster. Ein reiner Schreibtischjob. Dass er für die Konzeptentwicklung in Schleswig war, ist nicht auszuschließen.
Sind Ihnen Fälle bekannt aus anderen Stormarner Gemeinden?
Außer den jetzt bekannt gewordenen Fällen nicht.
Als Konsequenz aus dem Skandal sind in Ahrensburg viele Menschen aus der Kirche ausgetreten. Was unternimmt die Kirche, um Vertrauen zurückzugewinnen?
Wir versuchen, transparent und offen aufzuarbeiten. Wir gehen ins Gespräch und fangen an, in Kitas und in der Jugendarbeit präventiv zu arbeiten. Wir wollen Kinder stärken, ihre eigenen Grenzen zu sehen und sie auch gegen Erwachsene zu verteidigen.
Das heißt, der Fall Ahrensburg schlägt Wellen für die pädagogische Arbeit in ganz Nordelbien?
Nicht nur der Fall Ahrensburg. Die ganze Missbrauchsdebatte spielt da eine Rolle. Unsere Broschüre zum Umgang mit sexualisierter Gewalt dient seit 2004 als Handreichung für Verantwortliche in Kirche und Diakonie. Die neue Auflage in diesem Jahr ist schon fast vergriffen.
Was genau macht die in Ahrensburg gegründete Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung, der auch Sie angehören?
Wir haben gerade das Gesprächsforum zu sexuellem Missbrauch für den 5. Juli vorbereitet, das sich an Gemeindemitglieder und interessierte Bürger richtet. In der Arbeitsgruppe beschäftigt uns vor allem die Frage, was 1999 gewesen ist und was wir daraus lernen können. Im Gremium sitzen Pastoren, Mitarbeitende und Mitglieder des Kirchenvorstands sowie ein Vertreter der Opfer.
Was kann Kirche als Wiedergutmachung für die Opfer leisten?
Ich glaube, da kann man nichts wiedergutmachen. Das Leid lässt sich nicht ungeschehen machen. Wir können nur deutlich machen, dass wir die Opfer ernst nehmen, dass wir aufklären wollen und präventiv arbeiten.
Haben die kirchlichen Strukturen und das fast blinde Vertrauen von Eltern gegenüber Pastoren dazu beigetragen, dass die Missbrauchsfälle über Jahrzehnte totgeschwiegen wurden?
Nein, das glaube ich nicht. Kirchliche Strukturen unterscheiden sich nicht sehr von anderen. Die gesamtgesellschaftlichen Strukturen haben die Offenlegung nicht befördert. Heute sind wir viel sensibler beim Thema sexueller Missbrauch.
Das heißt, so etwas könnte heute nicht mehr geschehen?
Ich würde es gerne ausschließen, weil gerade wir als Kirche Vertrauen besonders groß schreiben. Aber auch ich muss mir klarmachen, dass es unter kirchlichen Mitarbeitern und Amtsträgern Menschen gibt, die offenbar ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.
Frau Baumgarten, wir danken Ihnen für das Gespräch.