Ahrensburger Pastor soll sich an mehreren Kindern und Jugendlichen vergangen haben
Ahrensburg. Mit Entsetzen hat die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Ahrensburg auf die Nachricht reagiert, dass es offenbar auch in ihren Kreisen sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen gab. Am Vormittag hatte die Nordelbische Kirche bekannt gemacht, dass gegen einen Ahrensburger Pastor im Ruhestand ermittelt wird. Der Mann habe sich, so die schwerwiegenden Vorwürfe, von Ende der 70er bis Mitte der 80er-Jahre an mehreren Kindern und Jugendlichen vergangen. Die Staatsanwaltschaft Lübeck beschäftigt sich bereits mit dem Fall.
"Wir haben ein immenses Interesse daran, den Vorwürfen auf den Grund zu gehen", sagt Helgo Matthias Haak vom Kirchenvorstand. Bei einer eilig einberufenen Mitarbeitersitzung, an der die amtierenden Ahrensburger Pastoren teilnahmen, seien alle Beteiligten schockiert gewesen. Niemand habe davon gewusst, sagt Haak. Doch alle seien einig: "Dass geredet, aber nicht gehandelt wird, lassen wir hinter uns."
Und geredet wurde offenbar schon lange in der Schlossstadt - aber hinter vorgehaltener Hand. Die mutmaßlichen Übergriffe, die nun mehrere Opfer gegenüber der Kirche und dieser Zeitung kundgetan haben, liegen Jahrzehnte zurück. Auffällig sei gewesen, so Haak, dass Jugendliche privat bei dem Pastor ein- und ausgingen. Von nächtlichen Zeltbesuchen des Geistlichen während einer Freizeit sei die Rede gewesen. Konkretere Anschuldigungen habe es nicht gegeben.
Doch es gibt einen pensionierten Kollegen des Beschuldigten, der offenbar mehr ahnte oder wusste. Auf Anfrage räumte der ehemalige Pastor ein, dass sich ihm Mitte der 80er-Jahre ein Mädchen anvertraute habe. Sie habe gesagt, sie sei von seinem Kollegen missbraucht worden. Von weiteren Übergriffen habe er erst nach 2001 gehört. "Ich war entsetzt über die Vorwürfe und habe meinen Kollegen zur Rede gestellt. Ich riet ihm, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, so der ehemalige Gemeindevertreter. "Den Eltern riet ich zur Anzeige, aber die schämten sich zu sehr."
Er selbst sei hin- und hergerissen gewesen zwischen Opferrecht und Kollegenschicksal: "Ich wollte nicht das Leben des Kollegen durch eine Anzeige zerstören. Als Vater hätte ich diesen Schritt jedoch immer getan." Der mutmaßliche Täter blieb unbehelligt. Sein damaliger Kollege sagt heute: "Ich habe nicht das Gefühl, richtig gehandelt zu haben. Das Ganze ist wie eine dicke Wolke, die immer über mir hängt."
Als Pastor Haak 1992 seine Arbeit in der Schlosskirche aufnimmt, ahnt er von all dem nichts. "Irgendwann Ende der Neunziger Jahre" seien ihm erstmals Gerüchte zu Ohren gekommen. Er habe nachgefragt. Sei auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Haak: "Mein Eindruck war, dass verdrängt, vertuscht und unter den Tisch gekehrt wurde."
Niemand habe konkrete Vorwürfe erhoben, kein Opfer sich gemeldet - "solange galt für mich das Unschuldsprinzip", so Pastor Haak.
1999 aber wendet sich eine Frau an die Ahrensburger Kirchenleitung und wirft dem geachteten, in der Jugendarbeit sehr engagierten Kirchenmann vor, sie und andere Mädchen und Jungen missbraucht zu haben. Erst als die Frau aus Ahrensburg fortzog und mit Hilfe einer Therapeutin das Durchlittene aufarbeitete, sei sie zu diesem Schritt bereit gewesen, schrieb die Frau am 11. März 2010 in einem Brief an Hamburgs Bischöfin Maria Jepsen.
Pastor Haak erinnert sich: "Die pastorale Dienstaufsicht ließ uns wissen, dass sie sich darum kümmere und wir als Gemeinde damit nichts weiter zu tun hätten." Im Klartext hieß das: Der ins Zwielicht geratene Pastor wurde zu einer übergemeindlichen Projektstelle versetzt. "Das war sozusagen die zweite Phase der Vorwürfe", resümiert der Kirchenvorsitzende. "Die Kirche vertuschte nicht mehr, aber zog auch keine disziplinarischen Konsequenzen."
Mit der Pressemitteilung der Nordelbischen Kirche und dem Einschalten der Staatsanwaltschaft haben die Vorwürfe vom Mittwoch nun disziplinarische Konsequenzen für den Pastor. "Ich bin erleichtert", sagt Haak, für den damit "die Phase 3" der Vorwürfe erreicht sei. "Kirche kann die Aufklärung nicht allein leisten, erstmals sind wir mit Hilfe des Staatsanwalts wirklich in der Lage, dem nachzugehen."
Es gäbe eine neue Pastorengeneration in Ahrensburg, die vor allem Trauer, Betroffenheit und Wut fühle angesichts des möglichen schwerwiegenden Fehlverhaltens eines ehemaligen Kollegen. "Kirche ist für mich ein Ort der Geborgenheit, des Schutzes und der Sicherheit", stellt Helgo Matthias Haak klar. "Wenn dies tief verletzt wird, ist das für uns alle eine Erschütterung." Für das Verhalten des Kollegens, der trotz Kenntnis der Vorwürfe schwieg und auch niemanden in der Gemeinde in Kenntnis setzte, habe er wenig Verständnis. "Es nützt alles nichts. Auch wenn die bittere Erkenntnis wehtut, das müssen wir aushalten", sagt Haak. Transparenz sei enorm wichtig.
Derzeit werde geprüft, in welchem Umfang neben dem bereits 1999 bekannt gewordenen Fall weitere Jugendliche von den Übergriffen des Pastors betroffen sein könnten, sagt Thomas Kärst, stellvertretender Pressesprecher der Nordelbischen Kirche.
Helgo Matthias Haak wäre froh, wenn sich weitere mögliche Opfer bei ihm melden würden. Er sagt: "Es würde mir helfen, mit Opfern zu sprechen." Und ergänzt: "Auch wenn ich mir vorstellen kann, dass sie Kirche nicht mehr als geschützten Raum ansehen, wäre es mir eine Freude, ihnen das Gegenteil zu beweisen."
Die Frau, die 1999 den Mut fand, sich an die damalige Pröpstin zu wenden, wurde damals zu einem Treffen unter sechs Augen gebeten, bei dem sie gegenüber dem beschuldigten Seelsorger die Vorwürfe wiederholen sollte. Dieser gab nach ihren Aussagen alles zu. Danach wurde er versetzt. Der Beschuldigte war am Mittwoch gegenüber der Regional-Ausgabe Stormarn des Hamburger Abendblattes nicht zu einer Stellungnahme bereit. Seine Anwältin teilte mit: "Weder wir noch unser Mandant werden sich mit Rücksicht auf das laufende Ermittlungsverfahren äußern."