Ahrensburg. Ahrensburger Geistlicher verabschiedet sich in den Ruhestand. Er setzte sich für die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals ein.

Es sind nur noch wenige Stunden, bis der Ahrensburger Pastor Helgo Matthias Haak seiner Signatur den Zusatz emeritiert – von den Amtspflichten entbunden -– hinzufügen kann. Mit dem 31. Oktober endet für den Geistlichen ein Fulltime-Job, der erfüllend und zugleich herausfordernd war. In seiner Amtszeit wurde in Ahrensburg einer der größten Missbrauchsskandale in der evangelischen Kirche aufgedeckt. Im Gespräch mit dieser Redaktion zieht Haak eine Bilanz und blickt zurück auf die schweren und die schönen Stunden, die er als Kirchenmann und Seelsorger erlebt hat.

Wie haben Sie sich von Ihrer Kirchengemeinde verabschiedet?

Helgo Matthias Haak: Anstelle eines Abschiedsgottesdiensts habe ich im April dieses Jahres mein 30. Dienstjubiläum an der Schlosskirche gefeiert. Das war sehr harmonisch und schön. In den vergangenen Monaten habe ich etliche Runden gedreht, um mich Stück für Stück zu verabschieden. Ich habe Dinge abgegeben, zuletzt die Verantwortung für die Sri-Lanka-Gruppe. Ich möchte still und in Ruhe gehen. Das ist es, was mir entspricht.

Sie sind 1956 in Ahrensburg geboren, haben Ihre Kindheit und Jugend dort verbracht. Wie war Ihre Verbindung zur Kirche?

Ich bin in der Schlosskirche von Pastor Trede konfirmiert worden. In meiner Freizeit war ich später als Jugendleiter aktiv. Nach meinem Abitur an der Stormarnschule habe ich meinen Zivildienst an der Kirche geleistet. Schon damals bin ich in Richtung Kirchengemeindearbeit gegangen, die ich dort kennengelernt hatte.

Hatten Sie zu dieser Zeit bereits den Entschluss gefasst, Pastor zu werden?

Nein. 1977 bin ich erst einmal nach Heidelberg gegangen, um dort Evangelische Theologie zu studieren. 1982 war ich während des Studiums ein Jahr in Sri Lanka. 1985 habe ich in Hamburg mein Examen abgelegt. Und das Promotionsthema war auch schon genehmigt. In meinem Studium waren Nachtschichten in der Telefonseelsorge und als Taxifahrer eine wichtige Schule für mich. Nachts lernt man fürs Leben. Ich wollte mit den Leuten sein und das Jenseits ins Diesseits bringen und habe mich dann dazu entschieden, ins Pfarramt zu gehen. 1988 wurde ich im Michel ordiniert, meine erste Pfarrstelle habe ich in Hamburg-Bramfeld angetreten.

Wollten Sie auf lange Sicht zurück nach Ahrensburg?

Dass ich mich 1992 dort beworben habe, lag nicht an mir, vielmehr an meiner Familie. 1987 hatte ich meine erste Frau Renate geheiratet. Unsere Tochter wollte gern in die Nähe meiner Mutter, die in Ahrensburg wohnte, und wir dachten, es sei schön für die beiden Kinder, auf dem Land aufzuwachsen. Ich hatte nie geplant wiederzukommen. Renate starb 2006 an Krebs, meine Mutter zwei Jahre später. Seit 14 Jahren bin ich mit meiner Frau Isolde verheiratet. Ich habe immer einen Engel an meiner Seite.

Mit welchem Gefühl kehrten Sie in Ihre Heimatstadt zurück?

Ich war Jahre raus und hatte in dieser Zeit etwas ganz anderes gemacht. Es war ein Heimkommen und zugleich ein neuer Anfang. Es war für mich schön, Ahrensburg zu kennen. Mein Vater war kriegsversehrt, er war Leiter des Bauhofes bis in die späten Siebziger und kannte viele Leute. Ich habe ein Bild von der Stadt und deren Geschichte. Ich trat die Nachfolge von Horst Klingspor an. Ich war immer Schlosskirchen-Pastor, habe aber gesamtgemeindlich gearbeitet. Ich war der 22. Pastor der Schlosskirche seit 1596. Nach mir wurde die Zählung aufgehoben, das finde ich eigentlich schade.

Pastor Helgo Matthias Haak bei den Kinderbibeltagen in Ahrensburg 1994.
Pastor Helgo Matthias Haak bei den Kinderbibeltagen in Ahrensburg 1994. © H. M. Haak

Was zählte zu Ihren hauptsächlichen Aufgaben?

Ich habe viel Jugendarbeit gemacht. Manchmal habe ich 60 bis 80 Konfirmanden betreut, über die Jahre dürften es so 1500 bis 2000 Jugendliche gewesen sein. Ich habe vielen Menschen das letzte Geleit gegeben. Wichtig war auch die Arbeit mit den Senioren. In der Mitte des Lebens finden sich nicht so viele in der Kirche ein. Ab 2000 war ich Vorsitzender des Kirchenvorstands. Ich hatte damit zu tun, die Insolvenz der Kirchengemeinde abzuwenden. Die Leitung hat mich gefordert. Ich habe die Baumaßnahme an der Schulstraße initiiert. Alles so umzustrukturieren war nicht einfach, da gab es viele Widerstände. Im Rückblick ist es kurios, dass die Kredite genau mit meiner Verrentung abbezahlt sind.

Was werden Sie als besondere, positive Momente in Erinnerung behalten?

In den 1990er-Jahren bin ich jedes Jahr mit einem Reisebus voller Jugendlicher zum Zelten gefahren an Côte d’Azur oder die Costa Brava. Ich erinnere mich gern an die Abendmahlsfeier am Strand mit 50 Jugendlichen. Oder wie wir in Norditalien waren und zur Arena di Verona gefahren sind und dort die Opern „Carmen“ und „Aida“ erlebt und eine La-Ola-Welle losgetreten haben. Die Jugendlichen waren so begeistert, viele sind wohl Opernfans geworden (lacht).

Oder die Seniorenfahrten: Im September 1996 habe ich Strandkörbe für alle gemietet. Die Kollegen haben gesagt, das ist riskant, ausgerechnet im September, da könnte es regnen. Doch es war ein voller Erfolg, gerade Ausflüge für Senioren, wenn sie nicht so oft rauskommen. Die Reisen ohne Anstrengungen waren hingegen eine Idee von Wilfried Pioch, der von 1968 bis 1996 hier Pastor war. Wir sind mit zwei VW-Bussen los, zuletzt waren wir in Malente am Dieksee, da war Pioch noch dabei. Dann denke ich an Frau Rother, die fragte, ob das für sie noch infrage käme – und dann ist sie zweimal mitgefahren, und das mit nahezu 100 Jahren. Es gibt noch viel mehr und so viele Menschen, die ich im Herzen behalte.

Das hört sich nach langen Arbeitstagen an ...

Das ist so in diesem Beruf. Als Pastor hat man eigentlich keinen Feierabend, man ist ständig verfügbar und erreichbar, aber auch sehr frei im Gestalten. Früher haben die Obdachlosen sonntags im Pastorat geklingelt, weil sie wussten, da bekommen sie was.

Wie ist Ihre Familie mit solchen Situationen umgegangen?

Meine Frau und ich waren eines Tages nur ganz kurz einmal weg und als wir nach Hause kamen, fanden wir unsere damals fünf und acht Jahre alten Kinder mit einem Obdachlosen am Küchentisch, den sie aus dem Kühlschrank heraus bewirteten. Für uns war das ein kurzer Schrecken, für sie war es selbstverständlich, es gehörte zum Leben dazu.

Helgo Matthias Haak 2019 mit Kindern im Ahrensburg-Janavijaya-Kindergarten in Madihe/Sri Lanka.
Helgo Matthias Haak 2019 mit Kindern im Ahrensburg-Janavijaya-Kindergarten in Madihe/Sri Lanka. © H. M. Haak

Mit einem Projekt in Sri Lanka leisten Sie ebenfalls Hilfe. Wie kam es dazu?

Nach der Tsunami-Katastrophe haben wir 2005 in Madihe den Ahrensburg-Janavijaya-Kindergarten aufgebaut. Außerdem unterstützen wir ein Waisenhaus in Colombo mit einem Patenschaftsprojekt.

Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrem Kollegen Gert Dietrich Kohl, bevor dessen jahrelanger sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen 2010 aufgedeckt wurde?

Wenn Sie mich das vor zehn Jahren gefragt hätten, hätte ich viel dazu zu sagen gehabt. Aber heute möchte ich dem keinen Raum mehr geben.

Wann haben Sie von den Missbrauchsfällen erfahren?

Am 17. April 2010. Ich kann mich noch genau daran erinnern: Es war ein Sonnabend. Pröpstin Margit Baumgarten rief mich an, weil es einen Brief an Bischöfin Maria Jepsen in der Sache gegeben hatte.

Sie wussten überhaupt nichts davon?

Wenn ich von diesen Dingen etwas gewusst hätte, hätte ich nicht mehr Pastor sein können. Als ich dann davon erfahren habe, bin ich in eine Existenzkrise gekommen. Es fühlte sich für mich an wie ein Kirchenzusammenbruch. Ich war so weit, dass ich dachte, ich müsste eigentlich aus der Kirche austreten. Doch dann kam mir in den Sinn, dass eigentlich andere austreten müssten. Ich hatte sehr intensive und offene Gespräche mit den Krohns und anderen Betroffenen und habe erfahren, was sie in der Gemeinde erlebt hatten. So wurde mir klar, dass Furchtbares passiert war.

Welche Folgen hatte das für Sie?

Ich fühlte mich eine Zeit lang hintergangen von Menschen, die mir ins Gesicht blickten und einen guten Morgen wünschten. Das war ein böses Erwachen in der Gemeinde und für mich ein Bruch, der nie wirklich geheilt ist. Am Anfang haben sich alle solidarisch mit mir erklärt. Doch die Kollegen wurden bedroht. Nach zwei Monaten sollte ich aus dem Amt genommen werden. 2013/14 war ich über ein Jahr suspendiert. Das war eine einsame Zeit, in der mir meine Familie sehr geholfen hat. Sie hat unter den Anfeindungen gegen mich richtig gelitten. Als ich per Gerichtsbeschluss wieder da war, hat die Gemeinde gejubelt, das hat mich sehr getragen.

Wie haben Sie die Situation bewältigt?

Ich hatte als Therapeuten einen Psychoanalytiker, der auf Missbrauch spezialisiert ist. Er hat mir ganz viel Deutung geben können, die ich als Kirchenangehöriger so nicht hatte. Und dann noch meine Frau Isolde. Sie kann Dinge anders lesen und schaut als Coach auch aus einem professionellen Blickwinkel darauf. Ich denke, für die Selbstachtung ist es wichtig, sich nicht verbiegen zu lassen und zu seiner Meinung zu stehen. Trotz des Drucks haben die Geschehnisse nicht alles überlagert. Es ist gleichwohl gelungen, weiter wertvolle Gemeindearbeit zu leisten.

Pastor Helgo Matthias Haak 2009 einen Tag vor Heiligabend mit Kindern und deren Begleiterinnen in der Schlosskirche.
Pastor Helgo Matthias Haak 2009 einen Tag vor Heiligabend mit Kindern und deren Begleiterinnen in der Schlosskirche. © H. M. Haak

Was ist das Besondere am Pastorenberuf?

Das ist für mich aus dem Berufsleben herausgenommen zu sein, um sich mit Spiritualität beschäftigen zu dürfen.

Haben Sie nie an Ihrem Glauben gezweifelt?

Ich glaube daran, dass das, was ich predige, mich auch selbst trägt. Ich bin Suchender und nicht nur Wissender, Glaubender und Zweifelnder zugleich. Und wenn man Schweres im Leben hat, bin ich überzeugt, dass einem der Glauben hilft.

Sie haben sich 2011 für das Amt des Propsts beworben – warum?

Das Thema Missbrauch wurde zu der Zeit totgeschwiegen. Ich bewarb mich, um das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Wäre ich gewählt worden, wäre es eine Gelegenheit gewesen, es anders zu machen. 2000 hatte ich mich schon einmal beworben. Ich war dafür, die Geschicke in die Hände der Gemeinden zu legen: Ich hatte gemerkt, dass Zentralisierung die Kirchen kaputt macht. Ich war mit Idealismus dabei. Ich bin vor allem immer Gemeindepastor gewesen und nicht Kirchenfunktionär.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Ich habe nichts geplant. Ich lasse es ruhig angehen. Ich sortiere Dinge, reise, laufe sehr gern lange Strecken oder schwinge mich aufs Fahrrad. Ich hab immer getaktet gelebt, das muss jetzt nicht mehr sein. Ich möchte viel Zeit mit meiner Frau verbringen und ich hab so viel im Kopf, was ich gern machen möchte. Das Sri-Lanka-Projekt ist ein lebenslanges Hobby. Es gibt viele Leute aus dem Patenkreis, die das weiterführen wollen. Ich hoffe, dass die Unterstützung weitergeht, das wünsche ich mir zu meinem Abschied. Und ich möchte nach Möglichkeit noch lang leben, weil ich sehr neugierig bin.