Ahrensburg. Beim Tag der seelischen Gesundheit in Ahrensburg äußern Aktivisten und Experten deutliche Kritik an Versorgungslage der Patienten.
Wer sich mit Menschen unterhält, die unter einer Angststörung oder einer Depressionen leiden, hört immer wieder Klagen über unzumutbar lange Wartezeiten auf Behandlungstermine und komplizierte Bewilligungsverfahren, zu denen den Betroffenen oft die Kraft fehlt. Nach Angaben der Eheleute-Schmöger-Stiftung Norderstedt sind etwa vier Millionen Menschen in Deutschland von Depressionen betroffen – Tendenz steigend. Weil sich die Lage für psychisch Erkrankte immer mehr zu einem gesellschaftlichen Notstand ausweitet, ist ein Umdenken in Sachen medizinisch-therapeutischer Versorgung jedoch dringend erforderlich.
Dieser Überzeugung ist auch der Vorsitzende des Aktionsbündnisses seelische Gesundheit, Prof. Arno Deister. Fast 100 Besucher folgten am Sonntagvormittag aufmerksam seinem Vortrag unter dem Titel „Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der Psychiatrie“ beim Tag der seelischen Gesundheit im Ahrensburger Peter-Rantzau-Haus.
Mehr Orientierung an Bedürfnissen der Erkrankten gefordert
Nach Deisters Einschätzung nehmen depressive Erkrankungen „aktuell wahrscheinlich nicht wirklich zu, werden aber zunehmend häufiger erkannt und diagnostiziert“. Die ambulante Versorgung bezeichnet er als katastrophal. Wer eine psychische Erkrankung habe, könne nicht Monate auf eine Behandlung warten. Das Gesundheitssystem müsse sich viel mehr an den konkreten Bedürfnissen der Patienten orientieren, fordert der Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie. „Wenn Sie mich fragen, ob alle psychisch Erkrankten heute das bekommen, was sie brauchen, lautet meine Antwort Nein.“
Funktional sei eine Behandlung dann, wenn sie sektorenübergreifend sei, wenn verschiedene Ansätze und Behandlungsformen Hand in Hand gingen und sich stationäre und ambulante Angebote ergänzten. Dazu laufe derzeit ein Modellprojekt in fünf Regionen Schleswig-Holsteins. Ausgangspunkt ist die wahrscheinliche Zahl der Menschen, die in einem Kreis oder einer kreisfreien Stadt psychisch erkrankt. Daraus errechnet sich ein Gesamtbudget, das die Krankenkassen für die Behandlung dieser Menschen innerhalb eines Jahres zur Verfügung stellen.
Modellprojekt hilft, Klinikaufenthalte wesentlich zu verkürzen
Der Clou: Die Kliniken können selbst über die Behandlungsformen entscheiden und externe Angebote mit einbeziehen. Diese Vorgehensweise kann nach Deisters Erfahrung dazu beitragen, Klinikaufenthalte wesentlich zu verkürzen. Wichtig sei die Beziehungskonstanz, damit die Patienten sich nicht immer wieder aufs Neue erklären müssten. Doch es gibt auch einen Wermutstropfen: Das Projekt greift erst, wenn der Patient in eine Klinik kommt.
Dabei ließen sich viele Klinikaufenthalte vermeiden. Da ist sich Sven Eggers, der zwei Selbsthilfegruppen Depressionen und Ängste in Ahrensburg leitet, sicher. Er sagt: „Angst-Erkrankungen sind am Anfang recht gut zu behandeln.“ Erfolge das nicht, steigerten sich die Betroffenen immer mehr hinein, und die Behandlung werde immer schwieriger. „Wenn man sieht, dass die Leute dann so lange krankgeschrieben sind und in dieser Zeit nichts passiert, ist das alles andere als sinnvoll.“
Problem: zu wenige Therapeuten mit kassenärztlichem Sitz
Früher habe eine Kurzzeittherapie aus 25 Sitzungen bestanden. „Das war schon kurz, inzwischen wurde es noch weiter nach unten korrigiert.“ Das eigentliche Problem sei, dass es zu wenig Therapeuten mit kassenärztlichem Sitz gebe und die angebotenen Termine oft in Zeiten lägen, zu denen Berufstätige sie nicht wahrnehmen könnten – „erst dann, wenn sie arbeitsunfähig werden“.
Ist ein Krankenhausaufenthalt eine Alternative? Eggers winkt ab. „Man kommt nicht so einfach in eine Klinik hinein und auf eine Akutstation nur, wenn man akut selbstmordgefährdet ist.“ So bleibt Betroffenen nur übrig durchzuhalten. Eggers hat beobachtet, dass die Nachfrage nach Plätzen in Selbsthilfegruppen steigt. „Wenn jemand in einer akuten Krise ist, ist eine Selbsthilfegruppe aber nicht sinnvoll. Sie ist eine Ergänzung, keine Therapie.“
In Ahrensburg gibt es inzwischen sieben Selbsthilfegruppen
Seine Kollegin Christiane Tiemann leitet vier Gruppen, die Dritte im Bunde, Kathrin Jaeger, eine. Tiemann hat das Angebot vor 38 Jahren in Ahrensburg aufgebaut, weil es etwas Derartiges damals nicht im Ort gab.
Tiemann sagt: „Was wir dringend brauchen, sind nicht mehr Beratungsstellen, sondern mehr Psychotherapeuten. Besonders im Kinder- und Jugendbereich fehlen Fachärzte.“ Die Politik müsse endlich etwas ändern. Viel Zeit werde beispielsweise mit Arbeitsgemeinschaften vertan statt sie für die Behandlung zu nutzen. „Allein in einer Woche gab es in Ahrensburg drei Vorträge zum Thema Depression. Ich frage mich, was das soll.“ Statt darüber zu reden, solle lieber gehandelt werden.