Hamburg. Mehr als 30.000 Arbeiter im Norden kämpften 1956/57 für die Lohnfortzahlung. Die ARD widmet dem Arbeitskampf ein Dokudrama.
Den deutschen Werften ging es blendend in diesen Wirtschaftswunderjahren. 1956 waren die Auftragsbücher prall gefüllt. Wer einen Neubau bestellte, musste bei manchen Werften bis 1962 warten. Die größte Nachfrage kam aus dem Ausland: Die Sowjetunion orderte genauso in Kiel und Hamburg wie der schillernde griechische Großreeder Aristoteles Onassis.
Den Werftarbeitern allerdings ging es gar nicht blendend in diesen Wirtschaftswunderjahren. 350 D-Mark netto bekam ein Schweißer oder Mechaniker für vier Wochen Arbeit, wenn er verheiratet war und zwei Kinder hatte. Das reichte gerade so zum Leben. Im Gegensatz zu heute waren die Mieten zwar günstig, Lebensmittel aber sehr teuer. Verdienstausfälle konnten kaum kompensiert werden – doch die gab es regelmäßig, wenn jemand krank wurde.
ARD: „Die Mutigen 56“ zeigt Deutschlands längsten Streik in Schleswig-Holstein
An den ersten drei Tagen gab es gar keinen Lohn, dann für neun Tage ein „Hausgeld“ (58,86 D-Mark) und für die nächsten 16 Tage Krankengeld (116,32) – macht für vier Wochen 175,18 D-Mark, also die Hälfte des eigentlichen Lohns.
So schleppten sich nicht nur viele krank zur Arbeit, weil sie es sich schlicht nicht leisten konnten – auch die Wut der Arbeiter wuchs. Denn Angestellte bekamen schon seit 1930 vom ersten Tag an Krankengeld. Als die Arbeitgeber die Forderungen der IG Metall ablehnten, kam es zum Streik – dem längsten in der Geschichte der Bundesrepublik.
Der lange und harte Arbeitskampf ist heute weitgehend vergessen
Das ist der Ausgangspunkt des Dokudramas „Die Mutigen 56 – Deutschlands längster Streik“, das das Erste am 1. Mai um 21.45 Uhr und ab sofort in der Mediathek zeigt. „Dieser Streik hat für so viele Menschen so viel erreicht, ist aber fast völlig vergessen“, sagt Marc Brasse, NDR-Redakteur für Dokumentation und Reportage, der das Projekt angestoßen hat.
Heraus gekommen ist ein eindringlicher 90-Minüter, der die 1950er-Jahre und das Arbeitermilieu im bewährten Mix aus Spielszenen, Originalbildern und Zeitzeugen-Berichten lebendig werden lässt. „Wir haben den fertigen Film den Zeitzeugen vorab gezeigt, und die Reaktionen waren sehr positiv, zum Teil ergreifend“, erzählt Brasse. „Das war eine sehr wichtige Bestätigung.“
Die Kluft zwischen dem Bürgertum und den Arbeitern war 1956 gewaltig groß
Im Mittelpunkt des Films steht die fiktive Kieler Familie Freese, bei der vor allem Mutter und Hausfrau Emma Freese (Anna Schimrigk) im Mittelpunkt steht, die auch als Erzählerin fungiert. In einer Zeit, in der die bürgerliche Welt von der der Arbeiter noch weitgehend strikt getrennt ist, verkörpert sie den Wunsch nach Aufstieg und vor allem Gerechtigkeit.
Dieser weibliche Blick auf das Geschehen ist keineswegs dem Zeitgeist geschuldet, denn die Frauen der streikenden Arbeiter waren der entscheidende Faktor, damit der Arbeitskampf über Monate aufrechterhalten werden konnte. Besonders eindringlich wird das mit der Darstellung der realen Familie Wadle gezeigt. Anni Wadle (gespielt von Bettina Hoppe), Kommunistin und Journalistin, wurde nach Ihrer Verhaftung 1933 gefoltert, erlitt einen Hörschaden und massive Rückenverletzungen, die ihr lebenslange Schmerzen bereiteten. Verraten hat sie niemanden.
Nach vier Jahren Haft kam sie frei und heiratete ihren Genossen Hein (Ronald Kukulies), der 1942 verhaftet wurde und bis Kriegsende im KZ saß. Ungebrochen kämpften sie weiter für die Arbeiter: er als Betriebsrat bei den Howaldtswerken, sie als Aktivistin. Die vielleicht beeindruckendste Szene des Films ist, als ihr siebenjähriger Sohn Heiner (der auch als Zeitzeuge auftritt) fragt: „Mutti, warum lächelst du nie?“ Und Anni später traurig zu ihrem Mann sagt: „Hein, ich schulde dem Jungen Fröhlichkeit.“
Eine wichtige Rolle beim Streik spielte auch der damals 27-jährige Heinz Ruhnau (Leonardo Lukanow), der später Innensenator in Hamburg, Staatssekretär in Bonn und Chef der Lufthansa werden sollte. Er hatte als Hilfsarbeiter begonnen, war mit 21 der jüngste Betriebsratschef Deutschlands, konnte mithilfe der IG Metall studieren und organisierte nun den Streik.
Die IG Metall hatte im April 1956 einen Forderungskatalog an die Arbeitgeber geschickt: Lohnfortzahlung für sechs Wichen, 18 Tage Urlaub und 7,50 D-Mark Urlaubsgeld pro Tag. Als die Gespräche ergebnislos verliefen, kam es am 11. und 12. Oktober 1956 zur Urabstimmung: Knapp 78 Prozent waren für den Streik.
Die Arbeitgeber gaben sich lange kompromisslos
Zunächst traten rund 18.000 Arbeiter in den Ausstand, vor allem auf den Werften und im Maschinenbau. Nach und nach wurden auch kleinere Betriebe bestreikt, schließlich waren rund 34.000 Arbeiter beteiligt. Dass der Streik 114 Tage dauern sollte, lag auch an der zunächst kompromisslosen Haltung der Arbeitgeber. Der Chef der Howaldt-Werft Adolf Westphal – selbst im Kieler Arbeiterstadtteil Gaarden groß geworden – fürchtete um die Wettbewerbsfähigkeit. Und er hatte den mächtigen Arbeitgeberverband hinter sich, der einen „Dammbruch“ befürchtete. Es wurde mit harten Bandagen gekämpft, den Arbeitern unterstellt, sie würden nur krankfeiern wollen. „Sonntags voll und montags blau“, hieß es.
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Doch die Arbeiter hielten durch. Auch weil die IG Metall einen modernen Arbeitskampf organisierte. Täglich gab es eine Streikzeitung, jede Woche Versammlungen, immer wieder Großkundgebungen. Und es gab Unterhaltung: „Streik-Revuen“ in der Ostseehalle, Kabarett, Skat- und Schachturniere. Vieles wurde für die Frauen und Kinder veranstaltet: Hausfrauennachmittage, Modenschauen, Ferienlager. Das alles, um Solidarität und Gemeinschaftsgefühl zu stärken.
Die Hilfsbereitschaft innerhalb der Arbeiterschaft war groß. „Wenn es jemanden schlecht ging, hatte man zu helfen“, erzählt Lisa Galle, Tochter eines Flensburger Werftarbeiters. „Man muss zusammenhalten, so sind wir groß geworden“, erinnert sie sich an ihre Kindheit. Dieser Zusammenhalt wurde vor allem zu Weihnachten deutlich. In ganz Deutschland gab es Sammelaktionen, Zehntausende Pakete wurden in den Norden geschickt. Jeder der Streikenden bekam mindestens eines.
Streikbrecher gab es wenige – doch die traf die volle Verachtung der anderen. Noch viele Jahre später. Der ehemalige Werftarbeiter bei Howaldt, Hans-Ulrich Stangen, erinnert sich, wie er als Neuling von einem Kollegen herumgeführt wurde. „Der zeigte auf einen Mann und sagte: ,Mit dem da reden wir nicht’. Der war 56 Streikbrecher.“
Einige Arbeitgeber wie die Nordische Maschinenbau in Lübeck akzeptierten die Forderungen
Auch auf Arbeitgeberseite gab es Opponenten, wie Udo Ehmke schildert. Der Rentner aus Rethwisch bei Bad Oldesloe hat den Streik als Kind in Lübeck erlebt und später für die IG Metall aufgearbeitet. „Rudolf Baader von der Nordischen Maschinenbau in Lübeck hat die Gewerkschaftsforderungen für seinen Betrieb akzeptiert. Man legte ihm dann nahe, den Arbeitgeberverband zu verlassen.“
Je länger der Streik dauerte, desto größer wurde der Druck auf die Politik, eine Schlichtung herbeizuführen. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident (CDU) versuchte sich daran, doch der Kompromissvorschlag wurde von der Tarifkommission und von 97 Prozent der Arbeiter abgelehnt.
Nun wandte sich von Hassel an Kanzler Konrad Adenauer (CDU), der beide Seiten nach Bonn lud. Die Arbeitgeber machten einige Zugeständnisse, und die IG Metall plädierte nun für Zustimmung. Doch bei der Abstimmung am 30. Januar stimmten 76 Prozent mit Nein – der Streik ging weiter. Sogleich wurde die nächste Schlichtungsrunde angesetzt, es gab weitere Zugeständnisse: Diesmal stimmten zwar immer noch 57 Prozent der Streikenden mit Nein, für eine Fortsetzung des Arbeitskampfes hätten es aber 75 Prozent sein müssen. Es war nach 114 Tagen vorbei.
Nach 114 Tagen Streik kam es zum Kompromiss
Jetzt gab es mehr Urlaub und Urlaubsgeld, nur noch 1,5 Karenztage im Krankheitsfall, die bei längerer Krankheit kompensiert wurden – 90 Prozent des Nettolohns wurden nun gezahlt.
Es war ein Erfolg, wenn auch kein vollständiger Sieg. Der aber bald für alle Arbeiter galt, denn schon im Juni 1957 beschloss der Bundestag das „Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfall“, das sich am Kompromiss orientierte. Bis zur Gleichstellung mit den Angestellten sollte es noch 13 Jahre dauern – dann fielen die Karenztage per Gesetz endlich weg.