Itzehoe/Hamburg. Gutachter sieht selbst Voraussetzungen für verminderte Schuldfähigkeit nicht. Eine seelische Erkrankung diagnostiziert er dennoch.
Arno Deister ist ganz klar. Es gibt kein Vielleicht bei ihm. Kein „unter Umständen“. Arno Deister, der renommierte Psychiater, legt sich fest: Ibrahim A. der als „Messerstecher von Brokstedt“ bundesweit bekannt wurde, leidet an keiner krankhaften seelischen Störung. Seine Intelligenz ist nicht relevant gemildert. Seine Tat geschah nicht im Affekt. Er verfügte über Einsichts- und Steuerungsfähigkeit bei der Tat. Heißt: Ibrahim A. hatte die Fähigkeit, das Unrecht seiner Tat zu erkennen. So formuliert es der Gutachter. Anders ausgedrückt: Der Fachmann hält den Messerstecher von Brokstedt für schuldfähig.
Arno Deister gibt keine Empfehlungen ab, sondern nur Einschätzungen. Die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik – dafür sieht er keinen Bedarf. Die Unterbringung in einer Erziehungsanstalt? Trotz des erheblichen Drogenmissbrauchs des Messerstechers sei das nicht nötig. Ginge es nach Arno Deisters Gutachten: Ibrahim A. käme ins Gefängnis statt in die Klinik. Und das auf unabsehbare Zeit: Weil der Mann aus Gaza weiterhin eine Gefährdung für die Allgemeinheit darstelle, sei aus forensischer Sicht die an die Haft anschließende Sicherungsverwahrung zu empfehlen. So sagt es Arno Deister. Er habe nicht den Eindruck gewonnen, dass sich der Täter vollständig abgrenze von dem, was geschehen sei, begründet der Gutachter seine negative Prognose.
Brokstedt-Prozess: Urteil zu Bluttat in Zug nach Hamburg vermutlich noch im Mai
Der Prozess gegen den Messerstecher von Brokstedt geht mit diesem Gutachten in die entscheidende Phase. Am Donnerstag die Aussage des renommierten Psychiaters, an diesem Freitag folgt die Aussprache über Deisters Studie. Am kommenden Donnerstag werden die Plädoyers vor dem Landgericht in Itzehoe erwartet, und am 15. Mai wird mit dem Urteil der Kammer gegen den 34 Jahren alten staatenlosen Palästinenser gerechnet. Die Staatsanwaltschaft hat den Mann, der seit 2014 in Deutschland lebt, wegen zweifachen Mordes und vierfachen Mordversuchs angeklagt.
Die Entscheidung, ob Ibrahim A. zu lebenslanger Haft verurteilt wird oder ob er auf unbestimmte Zeit in der Psychiatrie untergebracht wird, liegt beim Gericht. Aber Deister hat mit seinem Gutachten eine Richtung vorgegeben. Letztendlich geht es um die Frage: War der Messerstecher an jenem 25. Januar 2023, als er ein junges Paar niedermetzelte und vier weitere Fahrgäste in der Regionalbahn von Kiel nach Hamburg schwerst verletzte und zum Teil lebenslang entstellte, schuldfähig – oder war er es nicht? Deister sprach im Gerichtssaal von einer „komplexen Fragestellung“. Der 66 Jahre alte Experte für forensische Psychiatrie hat den Prozess seit dem Auftakt im vergangenen Sommer begleitet, hat alte Gutachten und Gerichtsprotokolle ausgewertet und den Angeklagten dreimal in der Untersuchungshaft einvernommen – bis Ibrahim A. sich weigerte, Deister wiederzusehen.
Brokstedt-Prozess: Messerstecher Ibrahim A. hat regelmäßig Drogen konsumiert
Im Laufe des Prozesses hatten mehrere Psychiater ausgesagt, die A. in der Untersuchungshaft und während seiner Haft zuvor in der JVA Billwerder konsultiert hatten. In ihren Statements war vom Verdacht einer Psychose beim Angeklagten die Rede. Aber vermindert diese seine Schuld? Verhindert eine Erkrankung eine lange Haftzeit? Entscheidend ist: War Ibrahim A. zum Zeitpunkt der Tat, am 25. Januar 2023, schuldfähig?
Deister beschrieb den Angeklagten am Donnerstag als jahrelangen Drogenkonsumenten. Haschisch will Ibrahim A. schon zu Kindeszeiten in Gaza konsumiert haben, in Deutschland kamen rund zwei Jahre nach seiner Einreise, also 2016, Kokain und Heroin hinzu. Die Flucht aus Palästina soll rund ein Jahr gedauert und A. über die Türkei, Griechenland und die Balkanroute nach Deutschland geführt haben. Das Ziel sei ein zufälliges gewesen, hieß es, es hätte den Palästinenser also auch nach ganz woanders in Europa führen können. Hat es aber nicht.
Warum Brokstedt-Angeklagter Ibrahim A. nach Schleswig-Holstein gezogen ist
In Deutschland jobbt Ibrahim A. als Paketzusteller, macht ein Praktikum bei einem Schlosser, arbeitet auf dem Bau. Nichts hält wirklich lange vor. Und so fällt Ibrahim A. seit 2014 immer wieder kriminell auf. Erst in Nordrhein-Westfalen, dann in Schleswig-Holstein – wegen der Nähe zum Meer, wie A. sagt – und schließlich in Hamburg.
Hier sticht er einen Mann an einer Essensausgabe nieder, verletzt ihn schwer. Dennoch verhängt das Amtsgericht St. Georg ein Urteil von gerade einmal einem Jahr Haft. Das sitzt A. 2022 in Billwerder ab. Er greift Mithäftlinge an, beleidigt und attackiert Justizangestellte, wird offiziell mit immer höheren Dosen der Ersatzdroge Methadon versorgt.
In seiner Zelle im Hamburger Gefängnis spricht A. mit imaginären Menschen. Er hört Stimmen, wo niemand sonst ist, vernimmt Klopfgeräusche, wo keine sein können. Mal spricht jemand aus der Lampe zu ihm, mal aus dem Heizkörper, sagt Ibrahim A. aus. Er fühlt sich bedroht – und wird in diesem Zustand Anfang 2023 in die Freiheit geschickt. Im Entlassungsbrief empfehlen die Anstaltsärzte ihren Berufskollegen draußen die Weiterbehandlung mit Methadon. Nur: Es gibt gar keine weiterbehandelnden Ärzte.
Gutachter diagnostiziert Brokstedt-Angeklagtem PTBS
Für den Forensiker Deister kristallisierte sich im Lauf seiner Gespräche, Beobachtungen und Analysen heraus, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Ibrahim A.s Verhalten in Deutschland und seiner „schwierigen Kindheit in Gaza“ zu geben scheint. In Gesprächen des Palästinensers mit Gutachtern früherer Prozesse war die Rede von „schlimmsten Misshandlungen durch die Hamas“, das Wort Folter fiel. Es war auch die Rede von Zerstörungen des Lebensumfeldes durch die israelische Armee.
Arno Deister, der Experte für forensische Psychiatrie, glaubt, dass die Erinnerungen an Kindheit und Jugend im Nahen Osten und die Haft in Hamburg eine Posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS, bei Ibrahim A. ausgelöst haben. Heißt: Ibrahim A. ist krank. Aber er ist aus Sicht des Gutachters nicht schuldunfähig.
Während Deisters etwa zwei Stunden langem Vortrag wirkt Ibrahim A. – anders als an etlichen anderen Prozesstagen – hellwach und aufmerksam. Die meiste Zeit sitzt er, heute bekleidet mit Jeans und Pulli statt mit grünem Gefängnisoverall, aufrecht und verfolgt die Simultanübersetzung. Jedenfalls, bis er um eine Pause bittet – wegen „Kopfschmerzen“.
Brokstedt-Prozess: 34-Jähriger griff auf Zugfahrt nach Hamburg Fahrgäste an
Die Staatsanwaltschaft geht von Prozessbeginn an von der Schuldfähigkeit des Angeklagten aus. Sie wirft dem 34-Jährigen Heimtücke und eine besondere Schwere der Schuld vor. Ibrahim A. hatte am 25. Januar 2023 gegen 14.45 Uhr mit einem handelsüblichen Messer in der Regionalbahn nach Hamburg in Höhe von Brokstedt wahllos Fahrgäste angegriffen und niedergestochen. Die 17-jährige Ann-Marie und ihr zwei Jahre älterer Freund Danny hatten keine Chance, sich gegen den brutalen Angriff zu wehren, sie starben noch im Zug.
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Der Verteidiger des Angeklagten, Björn Seelbach, geht hingegen von einer psychischen Erkrankung seines Mandanten aus und forderte schon früh zu Verhandlungsbeginn dessen Verlegung von der Untersuchungshaft in eine Psychiatrie.