Kiel. Viele Mediziner verabschieden sich in den Ruhestand. Kieler Ministerin über Telemedizin, Nachwuchsmangel und Versorgungszentren.

Die Gesundheitsversorgung in Schleswig-Holstein steht vor einem dramatischen Umbruch. Kliniken, Praxen, Apotheken – überall dasselbe Problem: Erfahrene Ärzte, Apotheker und Pflegekräfte verabschieden sich in den Ruhestand, und allein schon durch den demografischen Wandel fehlen die Nachfolger. Hinzukommt, dass viele junge Ärzte die Selbstständigkeit als Haus- oder Facharzt scheuen. „Die größten Probleme tun sich in Schleswig-Holstein auf dem Land auf“, sagt Gesundheitsministerin Kerstin von der Decken. „Da überall die Leute fehlen werden, werden sie hier besonders schmerzlich fehlen.“

Die Kassenärztliche Vereinigung berichtet von zuletzt 80 unbesetzten und 122 zusätzlich ausgeschriebenen Arztstellen in Schleswig-Holstein. Für die 122 neuen Jobs werden 76 Hausärzte und 15 Fachärzte gesucht, darüber hinaus wurden Stellen geschaffen für Fachleute in der Psychotherapie und Nervenheilkunde. Zuletzt gab es in Schleswig-Holstein in den Praxen und 120 medizinischen Versorgungszentren (MVZ) rund 1.930 Hausarzt- und rund 2.400 Facharzt- sowie 720 Psychotherapeutenstellen.

Ärztemangel im Norden: Wie sich die Behandlung ändert

Das Problem bei der Stellenbesetzung: Die Generation, die nachkommt, ist nicht nur zahlenmäßig geringer, sondern sie hat auch andere Vorstellungen von der Arbeitswelt, sagt von der Decken. „Immer weniger Haus- und Fachärzte wollen sich als freie Unternehmer niederlassen. Sie wünschen stattdessen beispielsweise geregelte Arbeitszeiten und ein Angestelltenverhältnis.“ Und so setzt man im Norden verstärkt auf Gemeinschaftspraxen und medizinische Versorgungszentren, in denen angestellte Mediziner arbeiten.

Das ändert die Art der Behandlung. „Wir sind eher einen Hausarzt gewohnt, den man seit Jahren kennt. Diese persönliche Verbundenheit wird vielfach enden. Wir werden dafür größere Einheiten haben, wo man heute von dem einen und morgen von einem anderen Arzt behandelt werden. Es wird unpersönlicher, aber nicht unbedingt schlechter“, sagt die Gesundheitsministerin.

Ist seit Sommer 2022 Ministerin für Gesundheit und Justiz in Schleswig-Holstein: Kerstin von der Decken (CDU).
Ist seit Sommer 2022 Ministerin für Gesundheit und Justiz in Schleswig-Holstein: Kerstin von der Decken (CDU). © IMAGO/Frank Peter | imago stock

Die Menschen auf dem Land müssten damit rechnen, längere Wege zum Arzt oder der Ärztin zu haben. „Wir können niemanden zwingen, eine Praxis an einem bestimmten Ort zu eröffnen. Sie können locken, aber nicht zwingen“, sagt von der Decken. So könnten Gemeinden eine Immobilie als Wohnung und Praxis für einen kleinen Preis für die ersten Jahre zur Verfügung stellen oder dem Ehemann oder der Ehefrau bei der Jobsuche helfen.

Telemedizin: Videosprechstunde als erfolgreiches Hilfsmittel

Die Gesundheitsministerin setzt auf einen Mix aus klassischen Hausarztpraxen – „es wird weiter Menschen geben, die sich sehr gerne als freie Ärzte niederlassen“ –, aus Gemeinschaftspraxen, medizinische Versorgungszentren und Telemedizin. Die werde einen Arzt nie ersetzen, könne aber gerade auf dem Land mit großen Entfernungen und fehlender Mobilität ein „unglaublich hilfreiches Instrument“ sein.

Telemedizin – das ist die Videosprechstunde und die App-Anwendung, auf die Corona-Pandemie wie ein Booster gewirkt hat. So gibt es im Norden eine virtuelle Diabetesambulanz in Zusammenarbeit mit dem UKSH, eine Videosprechstunde für Kinder, Telemonitoring für Patienten mit Herzinsuffizienz oder Telebefunde bei der Beurteilung von Röntgen- und CT-Aufnahmen. „Ein weiteres Beispiel, das die Vorteile der Telemedizin zeigt, sind Hautuntersuchungen. Hautärzte können auf Handyfotos und im Videochat zum Beispiel Flechten begutachten. Variante 1: Der Befund ist so klar, dass der Hautarzt ein E-Rezept ausstellt oder Variante 2: Er bestellt bei unklarem Befund den Patienten doch in die Praxis. So wird gefiltert, wer den Weg überhaupt auf sich nehmen muss“, sagt von der Decken.

Wie Telemedizin im Gefängnis zum Einsatz kommt

Welchen Schub die Pandemie der Telemedizin brachte, zeigen Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung. Danach stieg die Zahl der Praxen mit Videosprechstunden in Schleswig-Holstein von einstellig im Jahr 2019 auf 888 im zweiten Pandemiejahr. Dann ist die Zahl wieder leicht gesunken. 2022 rechneten schleswig-holsteinische Ärzte gut 71.000 Videosprechstunden über die Kassenärztliche Vereinigung ab. Das Gesundheitsministerium rechnet damit, dass sich „Telemedizin als wichtige Ergänzung etablieren wird“ und fördert aktuell 17 Projekte. Möglich sind Zuschüsse bis zu 500.000 Euro über drei Jahre.

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Auch in den Gefängnissen im Norden sehen sich Patient und Arzt vermehrt am Bildschirm. Hier greift die Telemedizin beispielsweise, wenn kein fachärztliches Personal im Dienst ist, also vor allem abends und nachts, an Wochenenden oder Feiertagen. „Mit dieser Lösung können die Mitarbeitenden innerhalb kurzer Zeit ärztliche Unterstützung per hochauflösender Videoübertragung zuschalten“, heißt es im Ministerium. Von den vier Millionen Euro, die das Land im Jahr für die Gesundheitsfürsorge der Gefangenen ausgibt, fließen immerhin mehr als 500.000 in die telemedizinische Versorgung. „Ich gehe davon aus, dass die Bedeutung von Telemedizin auch im Justizvollzug weiter zunehmen wird“, sagt Gesundheitsministerin Kerstin von der Decken.

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