Kiel. Zu wenig Lkw-Fahrer, Bauarbeiter, Handwerker, Pflegekräfte. Schleswig-Holsteins Regierung geht ungewöhnliche Wege, um das Problem zu lösen.
Kliniken sagen verschiebbare Operationen ab, Läden schränken ihre Öffnungszeiten ein, Restaurants bieten tageweise nur noch belegte Brote statt warmer Mahlzeiten an, auf Handwerkertermine warten Kunden viele Wochen lang. Und das ist erst der Anfang. Denn die meisten aus der Babyboomer-Generation verabschieden sich erst in den kommenden Jahren in Rente und Pension. Bis zum Jahr 2030 werden allein in Schleswig-Holstein rund 130.000 Arbeitskräfte fehlen. Das bedeutet, dass jede zehnte Stelle nicht mehr besetzt werden kann.
Das geht aus einem Gutachten im Auftrag der Landesregierung hervor. Wirtschaftsminister Claus Madsen (parteilos) nennt den Fach- und Arbeitskräftemangel das „größte Problem, vor dem wir als Land stehen. Das hat viel weitreichendere Konsequenzen als die erhöhten Energiepreise“, sagt Madsen. Ministerpräsident Daniel Günther warnt: „Auch dem Letzten muss klar werden, dass wir jeden Tag Wohlstand verlieren.“ Und so arbeitet das Land an einer umfassenden Arbeitskräftestrategie.
Fachkräftemangel – das sagt der Wirtschaftsminister
Claus Madsen ist erst im vergangenen Sommer für den Ministerjob von Rostock nach Kiel gewechselt. In den ersten Monaten war er dauernd unterwegs, um Land und Leute besser kennenzulernen. „Ich bin viel durch Schleswig-Holstein gefahren“, sagt er. Und überall habe er dieselben Probleme wahrgenommen: „Mein Gefühl war, dass nach Corona die Menschen weg sind. Man fragt sich: Wo sind die hin?“
So legten Restaurants zwei Ruhetage die Woche ein, auf den Terrassen wird nicht mehr bedient. „Auf Lastwagen steht: ,Kommen Sie zu uns.‘ In Handwerksbetrieben höre ich viel weniger Klagen über Energiekrise, Krieg, Corona oder Inflation als über den Arbeitskräftemangel. Viele Unternehmen haben sehr gut gefüllte Auftragsbücher, aber ihnen fehlen Fachkräfte“, sagt Madsen über seine Bestandsaufnahme.
In einer groß angelegten Studie hat das Forschungsinstitut Prognos im Auftrag des Landes den Arbeitskräftemangel analysiert und hochgerechnet. Demnach wird es einen besonders starken Mangel bei Gebäudetechnikern geben. Auch Fahrer von Baggern, Lastwagen und Bussen werden dringend gebraucht. Groß ist die Lücke auch bei weiteren Arbeitskräften auf dem Bau, etwa bei Bauplanern, Tiefbaukräften oder Bodenverlegern. All diese Berufe seien wichtig für den Klimaschutz, sagt Madsen.
Er hat jetzt seine Mitarbeiter aufgefordert, auf Grundlage der Prognos-Studie Handlungsempfehlungen auszuarbeiten. „Ein Maßnahmenpaket wollen wir dann gemeinsam mit Arbeitgebern, Gewerkschaften, Kammern und Verbänden entwickeln.“
Fast 11.000 Lehrstellen sind nicht besetzt
Wie dramatisch die Situation ist, zeigt schon der Blick in den Ausbildungsbereich. Die Arbeitsagentur meldet für Schleswig-Holstein aktuell 10.883 unbesetzte Ausbildungsplätze – bei 5809 „unversorgten“ Bewerbern. Das heißt: Auf jeden Bewerber kommen rechnerisch fast zwei unbesetzte Stellen. Aktuell sind insgesamt 88.500 Schleswig-Holstein arbeitslos, die Quote liegt bei 5,6 Prozent. Im Vergleich zum Vorjahresmonat ist das ein Plus von 8.000. Das schreibt die Arbeitsagentur der „hohen Zahl arbeitsloser Schutzsuchender aus der Ukraine“ zu.
Minister Madsen: „Lokführer müssen kein Deutsch sprechen“
Das Land will jetzt mit einem Dreiklang aus weniger Bürokratie, mehr Digitalisierung und einer aktiven Willkommenskultur mehr ausländische Arbeitskräfte nach Schleswig-Holstein locken – und zugleich die Migranten, die schon hier leben, schneller in den Arbeitsmarkt integrieren. „Wir sind erheblich auf Zuwanderung angewiesen, das gilt für Deutschland insgesamt und ohne Zweifel auch für Schleswig-Holstein“, sagte Daniel Günther der Deutschen Presse-Agentur.
Ein Arbeitsmigrant in Schleswig-Holstein ist Günthers aus Dänemark stammender Wirtschaftsminister. Allein schon aufgrund seiner Biografie stellt Madsen vieles infrage, was bisher galt. „Die Erwartungshaltung, dass jeder Arbeitnehmer, egal in welchem Beruf sie oder er arbeitet, deutsch sprechen muss, ist ein Fehler. Wenn Sie in Kopenhagen in einem Sportwarengeschäft einkaufen, dann sprechen viele Verkäufer nur englisch. Genauso an der Hotelrezeption. Auch Lokführer müssen kein Deutsch können“, sagt Claus Madsen.
Er fordert, sich von weiteren Prinzipien zu verabschieden, um für ausländische Arbeitskräfte attraktiver zu werden. „Leider haben sich über viele Jahre Kammern und Verbände dagegen gewehrt, im Ausland gemachte Berufsabschlüsse – oder Berufserfahrungen – leichter und schneller anzuerkennen.“ Das sei ein Fehler und müsse korrigiert werden.
Fachkräftemangel – Wirtschaftsminister nimmt Unternehmen in die Pflicht
Madsen will die Unternehmer stärker in die Verantwortung nehmen. „Wenn wir Leute aus dem Ausland holen, tragen wir – und damit meine ich die Arbeitgeber – eine große Verantwortung für sie.“ Die Arbeitgeber müssten für eine Wohnung sorgen, mit Beschäftigten zum Arzt gehen, sich um sie kümmern. „Arbeitgeber übernehmen eine Mama-und-Papa-Rolle.“
Um diese Leute zu finden, startet das Land eine Fachkräftekampagne mit „internationaler Strahlkraft“. „Aber es muss sich auch auf Bundesebene etwas verändern, damit Deutschland attraktiver für Fach- und Arbeitskräfte aus dem Ausland wird“, sagt Regierungschef Günther. „Wir haben Aufholbedarf – es haben sich einige Hemmnisse in der Welt herumgesprochen.“
Eines dieser Hemmnisse könnte eine Deutschland unterstellte fehlende Willkommenskultur sein. Hier warnt Madsen vor Pessimismus: „Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht immer schlechter machen, als wir sind. Deutschland hat mir als Dänen vieles ermöglicht: Ich habe in einem Möbelhaus als Auslieferer und Verkäufer angefangen, später war ich IHK-Präsident, Unternehmer, Bürgermeister, und jetzt bin ich Minister.“ Deutschland sei schon ein Land, in dem vieles möglich gemacht werde.
Ausländer sollen helfen, den Fachkräftemangel zu lindern
Große Erwartungen setzt die schwarz-grüne Landesregierung in ein Welcome-Center, das dieses Jahres an den Start gehen soll. Es soll als zentrale Erstberatungs-, Informations- und Servicestelle rund um das Thema Arbeitskräftezuwanderung fungieren und Themen wie Visum, Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen, Beschäftigung, Bildung, Wohnen und Familie bündeln. Das Welcome-Center soll Günther zufolge auch im Ausland aktiv werden. „Wir wollen damit Kontakte aufbauen, bevor Menschen überhaupt in Europa sind.“
Der Etat für 2023 beträgt 1,4 Millionen Euro. Geplant sind bis zu sechs Stellen bei der Wirtschaftsförderungs- und Technologietransfergesellschaft. Hinzu kommen zwei Stellen vom Landesamt für Zuwanderung und Flüchtlinge und bis zu fünf Mitarbeitende der Arbeitsagentur.
Schleswig-Holstein will zudem die Arbeitsmarktintegration für die Menschen erleichtern, die schon hier sind. Und zwar zum einen für diejenigen, die einen rechtmäßigen dauerhaften Aufenthalt haben. Sie müssten schnell die Möglichkeit bekommen, zu arbeiten. Zum anderen müssten auch jene Perspektiven bekommen, die zwar eine gewisse Bleibeperspektive hätten, aber keinen dauerhaften Aufenthaltstitel, sagte Günther. Natürlich müssten dafür gewisse Voraussetzungen wie Integrationswille oder Straffreiheit gegeben sein. „Aber wer in Deutschland in einer Firma arbeitet und damit seinen eigenen Lebensunterhalt bestreiten kann, dem sollte der Staat auch ein dauerhaftes Bleiben ermöglichen.“
Senioren – das „graue Gold“ des Arbeitsmarkts
Das Land betrachtet neben den Migranten Senioren als große Chance für den Arbeitsmarkt. Madsen nennt diese Gruppe das „graue Gold“. „Wir müssen ihnen noch mehr Angebote zur freiwilligen Weiterbeschäftigung machen und die Menschen länger in den Betrieben halten. Sie können ihre Expertise an die jungen Menschen weitergeben.“ Laut Madsen empfänden viele Menschen in dem Moment, in dem sie in Rente geschickt würden, Lust, noch zu arbeiten. „Vielleicht sind es dann nicht acht Stunden, aber zwei, drei oder vier Stunden am Tag. Oder zwei Tage die Woche. Über die Möglichkeiten, die es gibt, müssen wir besser aufklären.“
Zehn Prozent ohne Schulabschluss – „Das können wir uns nicht leisten“
Madsen beklagt die zu hohe Zahl an Schulabgängern ohne Abschluss. Er kündigte an, gemeinsam mit Schulen, Kammern, Verbänden, Gewerkschaften und Hochschulen das Thema stärker in den Fokus zu nehmen. „Noch verlässt knapp jeder zehnte Jugendliche die Schule ohne Abschluss. Aber wir können es uns nicht leisten, jemanden zurückzulassen.“
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Dass etwa 60 Prozent der jungen Menschen Abitur machten, gefällt Madsen. „Das finde ich gut, weil sie dann hoffentlich eine gute Allgemeinbildung mitbringen. Aber müssen so viele danach studieren, statt einen Beruf zu erlernen?“, fragt der Politiker. „Wenn wir junge Menschen für eine Ausbildung gewinnen wollen, müssen wir die Berufe attraktiver machen. Eine Möglichkeit bietet hier eine Viertagewoche.“
Eine weitere Motivation, sich für eine Ausbildung statt für ein Studium zu entscheiden, könne eine Übernahmeverpflichtung durch den Arbeitgeber sein. „Eine Garantie für ein halbes oder ein ganzes Jahr könnte einen Anreiz darstellen. Darüber führe ich schon Gespräche mit den Verbänden“, sagt Madsen.
SPD-Chef im Norden fordert höhere Löhne
Auch für Thomas Losse-Müller von der SPD wird der Fachkräftemangel das bestimmende Thema der nächsten Jahre. „Pflege, Bildung, Bauen oder Klimaschutz – das Wichtigste ist, erst mal anzuerkennen, dass Fachkräfte eine knappe Ressource bleiben werden. Deshalb müssen wir auch bereit sein, mehr Lohn zu zahlen. Geschäftsmodelle, die auf Billiglöhne setzen, haben keine Zukunft mehr“, sagt der Sozialdemokrat. Die Arbeit der Fachkräfte dürfe nicht verschwendet werden, sagt Losse-Müller.
„Wirklich jeder Verwaltungsprozess muss automatisiert werden.“ Als Beispiel nennt er die Lehrerinnen und Lehrer. Die müssten sich auf guten Unterricht konzentrieren können und durch Teams mit anderen Qualifikationen unterstützt werden.
Auch für Losse-Müller ist Zuwanderung die einzige Möglichkeit, das Problem in großem Stil zu lösen. „Wenn wir die Fachkräftelücke komplett durch qualifizierte Zuwanderung schließen wollen, reden wir über 15.000 neue Arbeitskräfte jedes Jahr, die mit ihren Familien kommen werden. Die brauchen Wohnungen, Sprachkurse, Kitas und Schulen, die es alle noch nicht gibt.“ Das bedeute, dass jedes Jahr eine Stadt wie Glinde oder Uetersen dazu gebaut werden müsse. „Wenn die Landesregierung über Fachkräftezuwanderung redet, muss sie erklären, wie das gehen soll“, fordert Losse-Müller. (mit dpa)