Kiel. Die Landespolitik reagiert jetzt auf Urteil des OVG Schleswig. Bundeswirtschaftsminister Habeck sorgt sich nun um den Frieden im Norden.
Der grüne Umweltminister Tobias Goldschmidt spricht von einer „ganz bitteren Pille“, Oppositionsführer Thomas Losse-Müller (SPD) von einer „echten Klatsche“, Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) von einer „nicht zufriedenstellenden Situation“. Und die Windenergie-Branche warnt eindringlich vor einem Moratorium: Das Oberverwaltungsgericht in Schleswig hat dem Land Schleswig-Holstein gravierende Planungsfehler attestiert – und mit seinem Urteil auf eine Normenkontrollklage den angedachten Ausbau der Windkraft im Norden des Landes gestoppt. Jedenfalls ab dem Zeitpunkt, wenn das Urteil rechtsgültig wird. Das OVG hat Politik und Verbände damit völlig überrascht. Jetzt geht es um Schadensbegrenzung.
Viele Möglichkeiten hat Schleswig-Holstein dabei nicht. Das Land könnte erstens versuchen, vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Revision einzuklagen, die eigentlich ausgeschlossen ist. Es könnte zweitens die Windkraft-Planung komplett neu aufsetzen. Oder es könnte drittens nichts tun und das Urteil hinnehmen. Möglichkeit drei scheint ausgeschlossen.
Land droht nächste Schlappe vor Gericht
Was war passiert? Um den vor allem auf dem Land teils erbittert geführten Streit um den Ausbau der Windkraft zu befrieden und zudem Rechtsklarheit zu schaffen, hatte die Jamaika-Koalition nach dem Wahlsieg 2017 die Windkraftplanung neu aufgesetzt. Dabei wurde das Land in regionale Zonen aufgeteilt, sogenannte harte und weiche Genehmigungskriterien wurden eingeführt. Ein Kilometer Mindestabstand war jetzt zu Siedlungen einzuhalten. Gleichzeitig unterschied Schleswig-Holstein fortan zwischen den 344 Vorranggebieten und den Tabuzonen. Ziel war, mit den Vorranggebieten genügend Flächen zur Verfügung zu stellen, um Energiewende und Klimaschutz voranzubringen. „Gleichzeitig werden große Teile des Landes frei gehalten. Außerhalb der Vorranggebiete ist die Windenergienutzung ausgeschlossen“, argumentierte das Land.
Nicht nur Naturschutzgebiete wurden zu Tabuzonen erklärt, sondern auch Regionen, die später einmal zum Naturschutzgebiet hochgestuft werden sollten. Überall dort war fortan der Aufbau von Windrädern verboten. Betroffen davon waren im Planungsraum 1 (Nordfriesland und Schleswig-Flensburg) die Landschaftsschutzgebiete Wiedingharder- und Gotteskoog sowie Ostenfeld-Schwabstedter Geest mit vorgelagerter Marsch. Um die geht es aktuell. Betroffene hatten schon im Mai 2020 eine entsprechende Verordnung des Kreises Nordfriesland erfolgreich beklagt. Trotz dieser Schlappe vor Gericht übernahm die Jamaika-Koalition auch diese Flächen als „Tabuzonen“ in die offizielle Landesplanung. Dagegen hat unter anderem eine Projektgesellschaft geklagt, die im Kreis Schleswig-Flensburg ein Windrad aufstellen will – und diese Woche recht bekommen. Damit nicht genug: Anfang Juni geht es vor dem OVG weiter. Dann verhandelt das Gericht Klagen aus dem Regionalplan 2 (Kiel, Neumünster, die Kreise Plön und Rendsburg-Eckernförde). Und es droht dem Land die nächste Schlappe.
Habeck sieht Urteil mit bedauern
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bedauert das Urteil. Er spricht von einem Rückschlag. „Ich hoffe, dass das Land, um den Frieden im ländlichen Raum zu wahren, schnell eine Lösung finden wird.“ Das Urteil hat die schleswig-holsteinische Landesregierung erschüttert und zu Krisentreffen am Rande der Landtagssitzungen geführt. „Die Windkraft ist das Fundament der Energiewende, die Vorrangflächenplanung eine ihrer wichtigsten Säulen. Das Urteil ist eine ganz bittere Pille. Die Vorrangflächenplanung ermöglicht es uns, Windräder zu bündeln und raumverträglich aufzustellen. Damit ist sie ein Garant für die Akzeptanz der Windkraft“, kommentiert Umweltminister Goldschmidt das Urteil.
Ein Problem der Landespolitiker: Das Schleswiger Gericht hat eine Revision verboten. Das bedeutet, dass das Land jetzt nicht gegen das Urteil selbst klagen kann, sondern nur gegen das Verbot der Revision. Zuständig wäre dann das Bundesverwaltungsgericht. Wie gut die Chancen dort stehen, prüfen Landesjuristen gerade. Das für die Landesplanung zuständige Innenministerium hält erst einmal an der Praxis von Tabuzonen und Vorrangflächen fest und baut dort die Windkraft weiter aus. Begründung: Das Urteil sei noch nicht rechtskräftig. „Die Entscheidung des OVG wird erst dann rechtskräftig, wenn binnen eines Monats nach Vorliegen der schriftlichen Urteilsgründe keine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt wurde bzw. bis das Bundesverwaltungsgericht über die Nichtzulassungsbeschwerde entschieden hat. Bis zur Rechtskraft ändert sich nichts an den derzeitigen Windplänen im Planungsraum I.“ Das heißt: Da mit einer schriftlichen Begründung des Urteils erst in fünf Monaten gerechnet wird und dann noch vier Wochen Frist bleiben, hat das Land rund ein halbes Jahr gewonnen. Weitere Potenzialflächen will die Regierung aber überprüfen. „Hierfür werden fast alle Kriterien auf den Prüfstand gestellt, ausgenommen davon ist der Abstand zur Wohnbebauung“, sagte Sütterlin-Waack.
Wildwuchs bei Windrad-Ausbau befürchtet
Ohne eine verlässliche Landesplanung mit belastbaren Kriterien drohte Schleswig-Holstein Wildwuchs beim Ausbau der Windkraft. Das will die Regierung unbedingt vermeiden. Auch für die Opposition ist klar: Ohne klare Regeln sinke die Akzeptanz für Windkraft, ohne belastbare Vorgaben würden die Konflikte in die Dörfer getragen. So sagt es Oppositionsführer Thomas Losse-Müller.
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Eine Möglichkeit wäre jetzt ein Moratorium, also alle Planungen erst einmal zu stoppen bis zur Rechtssicherheit. Nur schließt das „Wind-an-Land-Gesetz“ des Bundes aus dem vergangenen Jahr Stillstand beim Ausbau der Windkraft praktisch aus. „Deshalb ist jetzt ein riesiger Kraftakt nötig, um in zwei oder drei Monaten eine komplett neue Landesplanung aufzustellen“, fordert SPD-Fraktionschef Losse-Müller. Das gehe aber nur, wenn Ministerpräsident Daniel Günther das Thema zur „Chefsache“ mache und das „Urteil des OVG heile“.
Losse-Müller sieht Windkraft-Urteil als echte Klatsche
Während Losse-Müller das Urteil als „echte Klatsche“ für die Landesregierung wertet, spricht der Landesverband Windenergie von einer frustrierenden Situation. „Sie bringt erneut Rechtsunsicherheit in die Branche“, sagte Geschäftsführer Marcus Hrach. Der Windkraftausbau dürfe nicht noch einmal wertvolle Jahre verlieren. Die Landesregierung dürfe jetzt „auf keinen Fall ein Moratorium ausrufen, das würde den Ausbau der Windenergie vollständig zum Stoppen bringen“.
Bis 2040, darauf haben sich CDU und Grüne im Koalitionsvertrag geeinigt, soll Schleswig-Holstein zum ersten klimaneutralen Bundesland transformiert sein. Das Urteil werfe die Koalition jetzt erst einmal zurück, heißt es in Kiel. „Dass mit einem Urteil ein über fünf Jahre aufgestellter Regionalplan aufgehoben werden kann, ist für die Energiewende eine große Herausforderung“, sagt der grüne Umweltminister offiziell. Er setzt auf Unterstützung durch die Ampelkoalition. „Meine klare Erwartung ist, dass künftig Fehler im Raumordnungsrecht leichter geheilt werden können.“