Hamburg/Kiel. Nicht erst seit der Antiterrorrazzia im Dezember stehen Selbstverwalter, Delegitimierer und Reichsbürger im Fokus der Behörden.

Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden sind alarmiert: Die Zahl der „Reichsbürger“ in Hamburg und Schleswig-Holstein ist 2022 nochmals gestiegen. Der Hamburger Verfassungsschutz spricht von einem „nach wie vor anhaltenden Zulauf in das Spektrum“. Für 2023 erwartet er eine weitere virtuelle Vernetzung der Szene. Vor allem den sozialen Netzwerken dürften bei „Kommunikation, Verbreitung von Propaganda und Fake News, Rekrutierung und womöglich auch Radikalisierung“ eine zen­trale Rolle zukommen.

„Reichsbürger“ sorgten für bundesweite Razzia im Dezember 2022

Dass es sich bei den „Reichsbürgern“ nicht um harmlose Spinner handelt, zeigte Anfang Dezember der bundesweite Antiterroreinsatz gegen eine bewaffnete Gruppe. In der hatten sich unter anderem ehemalige Elitesoldaten und eine frühere Bundestagsabgeordnete der AfD zusammengeschlossen. Die Bundesanwaltschaft wirft den rund 50 Frauen und Männern vor, eine terroristische Vereinigung gebildet zu haben. Die Gruppierung soll geplant haben, das Reichstagsgebäude zu stürmen, die Bundesregierung abzusetzen und die Macht zu übernehmen.

„Diese Verhaftungen haben deutlich gezeigt, dass wir diese Szene nicht unterschätzen dürfen“, hatte Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack kurz nach dem Antiterroreinsatz gesagt – auch wenn es in Schleswig-Holstein und in Hamburg keine Festnahmen gegeben hatte. Die CDU-Politikerin kündigte gegenüber dem Abendblatt jetzt an, gegen „Personen, die unsere staatlichen Institutionen ablehnen und sie verächtlich machen, um einen Wechsel des politischen Systems herbeizuführen, mit aller Härte und Konsequenz“ vorzugehen. Dazu werde der „Verfolgungsdruck auf die rechtsextremistische Szene konstant hochgehalten“.

Registrierte der Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein in seinem im Sommer veröffentlichten Jahresbericht 480 „Reichsbürger“, hat sich die Zahl ein halbes Jahr später schon um rund ein Drittel erhöht. Hamburg berichtet von aktuell 340 „Reichsbürgern“, 2021 waren es 290 gewesen.

Verfassungsschutz in Hamburg beobachtet „Reichsbürger"-Szene seit Jahren

Der Verfassungsschutz in der Hansestadt hat die „Reichsbürger“- und Delegitimierer-Szene in den vergangenen Monaten und Jahren intensiv beobachtet und „nachhaltig aufgeklärt“, wie er sagt. „Das war und ist ein Sicherheitsgewinn für die Menschen in Hamburg. Wir werden das Spektrum auch künftig intensiv beobachten und die Öffentlichkeit über dessen Aktivitäten informieren“, kündigte der Nachrichtendienst an.

In diesem Spektrum hat der Verfassungsschutz auch Hamburger ausgemacht, die wirtschaftlich unter Druck geraten seien. Sie rechtfertigten ihre Zahlungsverweigerung mit der Reichsbürgerideologie und sähen das als „vermeintlichen Ausweg aus ihrer Misere“. Die hohe Zahl und deutliche Steigerung der „Reichsbürger“ führt der Verfassungsschutz auch auf seine „konsequente Aufhellung des Dunkelfeldes“ zurück.

Auf die Gefahr durch einen „verschwörungsideologischen Extremismus“ – unter dieser Bezeichnung hat Hamburg die heterogenen Szenen von „Reichsbürgern“, „Selbstverwaltern“ und „Deligitimierern“ als bislang einziges Bundesland zusammengefasst – macht der Verfassungsschutz seit einigen Jahren aufmerksam.

Umsturzfantasien wie die der Anfang Dezember festgenommenen „Reichsbürger“ stehen nach Ansicht des Göttinger Demokratieforschers Simon Franzmann am Ende eines länger andauernden Radikalisierungsprozesses. „Die eigene Gedankenwelt hat sich häufig so weit von den objektiven Tatsachen entfernt, dass ein Eingestehen dieser Diskrepanz zum psychischen Zusammenbruch führen könnte“, sagte Franzmann dem Evangelischen Pressedienst.

Die Betroffenen würden die objektiven Tatsachen deshalb zunehmend als Bedrohung wahrnehmen. „Der Umsturz ist dann ein – unbewusster – Versuch, die Diskrepanz zwischen objektiven Tatsachen und subjektiver Wahrnehmung zu überwinden.“ Verschwörungsmythen fänden vor allem in Krisenzeiten Zulauf, sagte der Göttinger Forscher.

Hamburger Polizei will Datenbank zur „Reichsbürger“-Szene anlegen

Auch Hamburgs Polizeipräsident warnt davor, „Reichsbürger“ als harmlose Spinner abzutun. Das sagte Ralf Martin Meyer im Gespräch mit NDR 90,3. Deshalb denke die Hamburger Polizei über eine Datenbank zur Szene nach. Die Idee sei, „mitbeobachten zu können, wie sich eine Person entwickelt, die dieser Querdenker- oder „Reichsbürger“-Szene zuzuordnen ist. Also: Wird sie gefährlicher?“, sagte Meyer dem NDR.

Dem Landeskriminalamt in Schleswig-Holstein sind allein in den ersten acht Monaten des vergangenen Jahres 134 Straftaten im Bereich der „politisch motivierten Kriminalität – rechts“ sowie Hassdelikte gemeldet worden. Dabei ging es unter anderem um Körperverletzung, Volksverhetzung, Bedrohung oder Verstöße gegen das Waffengesetz. Das geht aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage des SPD-Landtagsabgeordneten Niclas Dürbrook von Anfang Dezember hervor.

Innenministerin Sütterlin-Waack kündigte im Abendblatt ein konsequentes Vorgehen gegen Delegitimierer und politisch motivierte Kriminalität an: „Die Feinde unserer Demokratie versuchen, von innen wie von außen und in der virtuellen wie in der realen Welt, aktuelle Krisen für ihre Zwecke zu nutzen.“ Um gegenhalten zu können, müssten die Sicherheitsbehörden besser ausgestattet werden.

Sabine Sütterlin-Waack (CDU), Innenministerin von Schleswig-Holstein, kündigt konsequentes Vorgehen gegen  „Reichsbürger“ an.
Sabine Sütterlin-Waack (CDU), Innenministerin von Schleswig-Holstein, kündigt konsequentes Vorgehen gegen „Reichsbürger“ an. © dpa | Axel Heimken

Deshalb stärke die schwarz-grüne Koalition die Landespolizei. 2023 soll der Aufbau einer Cyberhundertschaft beginnen – und zwar „im Bereich der IT-Forensik und der Implementierung neuer IT-Fachverfahren, aber auch im Bereich der offenen Internet­recherche“, hieß es aus dem Kieler Innenministerium.

Bundesweit werden der „Reichsbürger“-Szene rund 21.000 Anhänger zugerechnet. Der Zulauf und die Staatsstreichpläne haben selbst die UN alarmiert. Generalsekretär António Guterres warnte im Dezember im Zusammenhang mit den Putschplänen in Deutschland vor rechtem Terror weltweit. „Es hat sich gezeigt, dass heutzutage die größte terroristische Gefahr in westlichen Nationen von extremen Rechten ausgeht, von Neonazis und jenen, die an die Überlegenheit von Weißen glauben“, sagte UN-Generalsekretär Guterres im Dezember in New York.

Während die Zahl der „Reichsbürger“ in beiden Bundesländern steigt, beobachtet der Hamburger Verfassungsschutz bei den „Deligitimierern“ hingegen einen Rückgang. 2021 und in den ersten Monaten von 2022 seien vierstellige Teilnehmerzahlen bei von Extremisten organisierten Demonstrationen zu den Themen Corona-Pandemie, Krieg in der Ukraine sowie Energie- und Preiskrise registriert worden. Seit einigen Wochen seien die Zahlen aber stark rückläufig – zuletzt lagen sie bei unter 200, teilweise bei 20. Die Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern bearbeiten seit April 2021 den Phänomenbereich „Verfassungsschutz­relevante Delegitimierung des Staates“.