Gerhard Ulrich, neuer Beauftragter für jüdisches Leben in Schleswig-Holstein, spricht exklusiv im Abendblatt über seine neue Aufgabe.

Es darf in unserer Gesellschaft keinen Raum geben für Antisemitismus, Verachtung und Verfolgung jeder Art. Das sagt Gerhard Ulrich. Der ehemalige Landesbischof ist Nachfolger von Peter Harry Carstensen als Landesbeauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus in Schleswig-Holstein.

Hamburger Abendblatt: Herr Ulrich, Sie hätten es bequemer haben und Ihren Ruhestand entspannt genießen können. Warum lassen Sie sich jetzt auf die Aufgabe des schleswig-holsteinischen Antisemitismusbeauftragten ein?

Gerhard Ulrich: Das ist weiterhin mein Ruhestand. Aber Ruhestand heißt ja nicht, dass man sich nicht mehr einmischt. Die Entwicklung unserer Gesellschaft, die Polarisierung und die Spaltung angesichts der aktuellen Herausforderungen wie dem Krieg mitten in Europa und der Pandemie, führt zu einer starken Zukunftsverunsicherung und einer Orientierungsfrage: Wie geht es für uns weiter?

In solchen Krisensituationen tauchen unter anderem uralte Zuschreibungen auf, wonach „die Juden“ schuld sind: Antisemitische Vorfälle nehmen in erschreckendem Maße zu – auch in Schleswig-Holstein.

Deshalb kommen Sie aus dem Ruhestand?

Ich habe dieses Ehrenamt auch übernommen, weil ich zugleich Beauftragter für das jüdische Leben bin. Den Kampf gegen Antisemitismus kann man nur führen, wenn man zugleich den Reichtum der jüdischen Kultur, der jüdischen Religion, des jüdischen Lebens in unserer Mitte aufzeigt und unterstreicht.

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  • Jetzt haben Sie ausgeführt, warum Sie die Aufgabe übernehmen. Wie wollen Sie sie mit Leben füllen?

    Ich habe die Aufgabe zum 1. November übernommen. Ich bin also noch ganz am Anfang, sondiere, führe Gespräche zum Beispiel mit den beiden jüdischen Landesverbänden und in den Ministerien. Wie wichtig diese Aufgabe ist, zeigt der 10. November dieses Jahres und die Bombendrohung gegen die jüdische Gemeinde in Flensburg.

    Mir ist sofort klar gewesen: Es geht bei diesem Amt darum, die Gemeinden in ihren täglichen Befürchtungen zu stützen und zu ermutigen. Denn wir müssen die Entfaltung der jüdischen Kultur in der Mitte der Gesellschaft ermöglichen und dafür sorgen, dass jüdisches Leben nicht in die Abschottung getrieben wird. Das könnte ja auch eine Reaktion sein auf antisemitische Vorfälle.

    Das heißt, Sie wollen helfen, das jüdische Leben noch präsenter zu machen in Schleswig-Holstein?

    Ich möchte die Gemeinden ermutigen, sich in der Mitte der Gesellschaft zu zeigen, auch dort, wo sie es nicht schon tun. Dazu kommt ein Bildungsauftrag. Ich glaube, dass es ein eher gering ausgeprägtes Wissen gibt über die jüdische Kultur, überhaupt über die vielfältigen Kulturen und auch über die eigene Kultur in unserem Land. Sonst würden wir wissen, wie groß die Schnittmenge der gemeinsamen Wurzeln von jüdischer Kultur, christlicher Kultur und säkularer Kultur ist.

    Ein massiver Zaun schützt die Carlebach-Synagoge in Lübeck – dahinter ein kleines Häuschen für die Polizei.
    Ein massiver Zaun schützt die Carlebach-Synagoge in Lübeck – dahinter ein kleines Häuschen für die Polizei. © picture alliance/dpa | Christian Charisius

    Sie versuchen, Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, auch über Glaubensgrenzen hinweg ...

    Es geht darum, Menschen zusammenzubringen und Brücken zu bauen zwischen Kulturen, Religionen und Menschen, die einander fremd geworden sind. Es geht darum, Angebote zu machen, um Ängste abzubauen. Die jüdischen Gemeinden in Schleswig-Holstein sind sehr aktiv.

    Sie leisten große Arbeit im Blick darauf, die jüdische Kultur und den jüdischen Glauben zu stärken und sichtbar zu machen. Aber sie leisten auch große soziale Arbeit für Migrantinnen und Migranten, Integrationsarbeit. Wie jetzt für Menschen aus der Ukraine. Das ist gelebte Sozialarbeit.

    Vervollständigen Sie bitte folgenden Satz: Ich bin oder ich war ein erfolgreicher Antisemitismusbeauftragter, wenn ...

    ... das jüdische Leben sich in der Mitte der Gesellschaft zeigen kann, wenn die Menschen bewusst einander begegnen und wenn in der Gesellschaft die Vielfalt der Kulturen als Stärke begriffen wird und nicht als eine Schwäche, die es zu beseitigen gilt.

    Ihr Vorgänger war Ex-Ministerpräsident Peter Harry Carstensen. Hatten Sie schon Zeit, sich mit ihm auszutauschen?

    Ja, natürlich. Das war einer meiner ersten Kontakte, bevor ich mich überhaupt entschieden habe, die Aufgabe zu übernehmen. Ich habe großen Respekt vor dem, was Peter Harry Carstensen in Bewegung gesetzt hat.

    Er hatte sehr gute Kontakte zu den jüdischen Gemeinden und zu beiden jüdischen Landesverbänden. Intensiv begleitete er die Aufarbeitung antisemitischer Vorfälle. Er ist für mich ein Vorbild.

    Seit ungefähr einem Jahr arbeitet eine eigene Antisemitismusbeauftragte bei der Generalstaatsanwaltschaft. Wie könnte eine Zusammenarbeit oder ein Austausch zwischen Ihnen und Frau Füssinger aussehen?

    Unser Kennenlerngespräch steht noch aus. Das wird demnächst stattfinden. Ein direkter, kurzer Draht ist nötig, auch um für einen Informationsfluss zu sorgen. Längst nicht alle antisemitischen Vorfälle, die wir beobachten, sind strafbar.

    Das ist das, was ich den beiläufigen, mitlaufenden Antisemitismus nenne. Und es ist ganz wichtig, dass gerade in der Justiz, aber auch in der Polizei dafür ein wacher Sinn herrscht. Das tut er, aber es braucht immer wieder den gemeinsamen Austausch.

    Reichen die vorhandenen strafrechtlichen Möglichkeiten und die politischen wie gesellschaftlichen Bestrebungen aus, um Antisemitismus wirksam zu bekämpfen?

    Ich glaube, es wird leider niemals zu einem Zustand kommen, wo wir sagen: Jetzt haben wir genug. Antisemitismus zeigt sich in derartig vielfältiger Gestalt, dass wir immer wieder neu nachschärfen müssen. Wir müssen übrigens auch unsere eigenen Sinne immer wieder nachschärfen. In Schleswig-Holstein ist schon sehr viel geschehen.

    So halten die jüdischen Gemeinden sehr viel von der Arbeit der Polizei vor Ort. Sie fühlen sich sehr gut geschützt, begleitet und gestärkt. Im ersten Quartal 2023 startet dann der runde Tisch gegen Antisemitismus. Das wird der Ort sein, an dem wir uns regelmäßig austauschen und über Maßnahmen beraten, die wir zusätzlich brauchen. Es gibt also eine große Vernetzung, aber wir werden niemals sagen können: Jetzt reicht es. Wir müssen wachsam sein.

    Wir betonen gern, dass Antisemitismus keinen Platz in der Gesellschaft haben darf. Aber er hat ihn längst. Wurde das Thema zu lange unterschätzt oder gar totgeschwiegen?

    Bei der Antwort muss man weiter ausholen. Ich gehöre zu einer Generation, die ihren Vätern und Großvätern immer gesagt hat: Leute, wieso habt ihr nicht hingehört? Warum habt ihr das unterschätzt? Oder wolltet ihr es sogar so? Vielleicht haben wir zu schnell gemeint, das Thema liege hinter uns und die Demokratie sei gefestigt und in der Gesellschaft implantiert als die beste Lebensform.

    Aber wir haben die Gefahr unterschätzt. Was uns begegnet an Antijudaismen, speist sich aus alten, vorreligiösen Ressentiments gegen „die Juden“. Bilder, Zuschreibungen, Projektionen ziehen sich durch die Geschichte – von der Antike her. Immer wieder tauchen diese alten Bilder auf – wie auf einem Kunstwerk bei der Documenta in diesem Jahr zum Beispiel. Bis heute sind diese Zuschreibungen Futter für Verschwörungsnarrative in der rechten Szene vor allem.

    Wozu das führen kann, haben wir in Halle gesehen, als bei einem Anschlag auf die Synagoge Menschen ermordet wurden – und kürzlich erst in Essen, als Schüsse abgegeben wurden auf das alte Rabbinerhaus und auf die Synagoge. Ich möchte aber nicht nur auf diese herausragenden Fälle achten. Maßgeblich ist die Prägung im privaten und im familiären Umfeld.

    Dieser „beiläufige“ Antisemitismus hat sich in unsere Kultur eingebrannt. Durch Internet und soziale Medien verschärft sich die Tendenz zu einer ganz schnellen, unüberlegten Meinungsbildung. Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine Aufgabe der Zivilgesellschaft.

    Menschen neigen dazu, Schuldige zu suchen, jemandem den „Schwarzen Peter“ zuzuschieben. Wir leben in einer Zeit multipler Krisen. Verstärken diese die Entwicklung?

    Ja, eindeutig. Die Verschwörungsnarrative in Zusammenhang mit Corona haben zugenommen. Aber auch mit Blick auf die wirtschaftlichen Folgen des verbrecherischen Angriffskriegs auf die Ukraine und das teurer gewordene Leben kommen ex­tremistische Zuschreibungen wieder hoch. Man sucht jemanden, den man für Fehlentwicklungen verantwortlich machen kann.

    Und da wird sich leider schnell bei den alten und verankerten Verschwörungsmythen bedient. Wir müssen aktuell sehr genau auf die Entwicklungen aufpassen. Die sogenannten sozialen Medien wirken oft wie Brandbeschleuniger.

    Sie beobachten Antisemitismus nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch in ihrer Lebenswirklichkeit?

    Das passiert zum Teil ganz unbewusst in Gesprächen. Es geht im Gespräch um eine Krise, und schnell ist dann die Rede von den Verantwortlichen – den Juden. Solche Automatismen müssen wir uns bewusst machen.

    Es ist gut, dass wir uns schon in den Schulen mit dem Thema beschäftigen und dort sensibilisieren. Wir müssen lernen und lehren, diese komplexe Welt, die uns große Angst macht, zu verstehen, ohne darauf hereinzufallen, die Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen des Lebens zu bedienen. Das ist eine Bildungsaufgabe von Anfang an.

    Also letztendlich eine Aufgabe, die sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche zieht? Also von Kitas, Schulen, der Erwachsenenbildung bis hin zu den Medien?

    Auf die Medien kommt eine große Verantwortung zu. Denn die Verführung, auf komplexe Fragen mit einfachen Antworten zu kommen, ist groß. Die Qualität von Journalismus bemisst sich allzu oft stärker nach der Anzahl von Klicks als nach der Qualitätsfrage, der des Inhalts. Wie gehen wir miteinander um?

    Mit welchem Blick sehen wir auf andere? Wir sollten in allen Bildungsinstitutionen – von der Kita bis in die politische Bildung, in Universitäten und in der Fortbildung – uns darin üben, die Welt nicht nur mit unseren Augen und mit unseren Sorgen zu sehen, sondern uns auch darin üben, die Welt mit den Augen der anderen zu betrachten. Wie sieht diese Welt eigentlich aus, wenn ich ein jüdischer Mensch bin?

    Wie gucke ich zum Beispiel jetzt im Advent als jüdischer Mensch auf die Festzyklen der Christenheit? Wo bleiben die Feste der jüdischen Gemeinden? Wo sehe ich Spuren meiner Religion in der Gesellschaft? So kann ich lernen zu verstehen, wie andere Menschen denken und wie sie die Welt sehen. Und das kann für mich eine Bereicherung sein.