Kiel/Hamburg. Recherchen des “Business Insider“ erheben schwere Vorwürfe: zu große Nähe zur Regierung, ein “Klima der Angst“. So reagiert der NDR.

Es ist eher ungewöhnlich, dass ein öffentlich-rechtlicher Sender eine Reaktion zu einem einzelnen Artikel veröffentlicht. Manchmal passiert es aber trotzdem: Zu nachtschlafender Zeit, um 23.49 Uhr am Mittwoch, taucht auf der Seite des NDR eine "Stellungnahme zum 'business insider'-Artikel" auf.

Uhrzeit und Länge der Reaktion lassen darauf schließen, dass die Vorwürfe, die das Wirtschaftsmagazin erhebt, nicht nur auf den ersten Blick schwer wiegen. Von einem "Klima der Angst" im Landesfunkhaus in Kiel ist da die Rede, von Führungskräften, die wie "Pressesprecher der Ministerien" agieren würden – und davon, dass kritische Berichterstattung über die Landesregierung durch einen "politschen Filter" gezielt behindert werde.

NDR: Mitarbeiter erheben massive Vorwürfe gegen Führungskräfte

Dem "business insider" liegen interne Untersuchungsberichte des NDR vor. Laut der Dokumente haben sich allein in den vergangenen zwei Jahren neun Mitarbeiter aus dem Landesfunkhaus in Kiel an den Redaktionsausschuss des NDR gewandt. Dieses Gremium hat laut Redaktionsstatut "vor allem die Aufgabe, sich nach Maßgabe dieses Statuts um eine Einigung bei Konfliktfällen in Programmfragen zu bemühen, die zwischen Programm-Mitarbeiter(inne)n und ihren Vorgesetzten entstehen".

Laut "business insider" traten die NDR-Mitarbeiter mit massiver Kritik an den Ausschuss heran: Im Landesfunkhaus in Kiel werde Berichterstattung "teilweise verhindert und kritische Informationen heruntergespielt". Beiträge von Autoren würden massiv verändert oder ihre Autoren gleich ganz von Themen abgezogen. Die Rede ist von einem "politischen Filter".

Untersuchung begann durch Grote-Affäre in Kiel

Schwere Vorwürfe, die den zentralen Punkt des Journalismus berühren: die unabhängige Berichterstattung. Ausgelöst worden seien die Anschuldigungen durch den Fall Hans-Joachim Grote, so das Wirtschaftsmagazin.

Im April 2020 hatte Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) Hinweise aus der Staatsanwaltschaft erhalten: Sein Parteifreund Grote habe als Innenminister vertrauliche Kontakte zu Polizeigewerkschafter Thomas Nommensen gehabt, gegen den zu diesem Zeitpunkt wegen Geheimnisverrats ermittelt wurde. Auch zu dem Journalisten der "Kieler Nachrichten", der von Nommensen mit Interna versorgt wurde – der 55-Jährige hat im laufenden Prozess gegen ihn ein umfassendes Geständnis abgelegt – habe es fragwürdige Kontakte gegeben. "Da war mir klar, dass Grote nicht Minister bleiben kann", hatte Günther bilanziert und Grote zum Gespräch gebeten. Der CDU-Mann bestreitet bis heute jedes Fehlverhalten, kam einem Rauswurf aber durch Rücktritt zuvor.

NDR-Reporter durfte kein Interview mit Grote führen

Kurz nach dem Rücktritt Grotes Ende April 2020 habe ein NDR-Journalist den Auftrag aus dem Landesfunkhaus erhalten, sich mit dem Thema Grote zu befassen. Er bekam ein persönliches Statement des CDU-Politikers, das er für einen Fernsehbeitrag aufbereitete. Laut Untersuchungsbericht des Redaktionsausschusses wurden vor Ausstrahlung aber mehrere Äußerungen Grotes aus dem Beitrag entfernt, unter anderem direkte Vorwürfe gegen Ministerpräsident Günther. Ein Interview, das derselbe Journalist danach mit Grote führen wollte, sei von seinen Vorgesetzten abgelehnt worden, weil durch das Gespräch keine neuen Erkenntnisse zu erwarten seien.

Der Konflikt landete einige Monate später vor dem Redaktionsausschuss. Dieser habe, so heißt es im "business insider" weiter, sich monatelang mit dem Fall befasst. Im Abschlussbericht aus dem Herbst 2021 kommt er zu dem Schluss, dass die Ablehnung des Interviews nicht nachvollziehbar gewesen sei: "Das Interview mit Herrn Grote hätte geführt werden müssen."

"Klima der Angst" im Landesfunkhaus des NDR in Kiel?

Die Untersuchungen zum Umgang mit dem zurückgetretenen Innenminister hätten die deutlich weiter gehenden Vorwürfe zutage gebracht: "Gleich acht Mitarbeiter aus dem Landesfunkhaus in Kiel hätten sich in diesem Zuge mit ihren Sorgen vertraulich an den Redaktionsausschuss gewandt", schreibt der "business insider" und zitiert aus dem Papier des Redaktionsausschusses.

"Sie berichten uns, dass sie den Eindruck hätten, es gäbe einen Filter in der Redaktion. Berichterstattung werde teilweise verhindert und kritische Informationen heruntergespielt. Autoren würden abgezogen und Beiträge in den Abnahmen massiv verändert. Die Stimmung in der Abteilung sei vergiftet, da Konflikte so lange schwelen", heißt es dort. Es herrsche ein "Klima der Angst", auch weil es gezielte Versuche der Führungskräfte gegeben habe, herauszufinden, wer sich an den Redaktionsausschuss gewandt hat. Die Beschwerdeführer betonten, dass die Einflussnahme beim Thema Grote kein Einzelfall sei, vielmehr gäbe es einen "politischen Filter" in der Redaktion, "eine Art Pressesprecher der Ministerien".

So reagiert der NDR auf die Vorwürfe

In seiner Reaktion auf den Artikel des "business insider" betont der NDR zwar, dass der Redaktionsausschuss ebenso wie das Landesfunkhaus und der NDR im speziellen Fall Grote keine politische Motivation erkennen könnten. Der Vorgang sei "aus Sicht des NDR Redaktionsausschusses, des beteiligen Mitarbeiters, des zuständigen Programmbereiches im NDR Landesfunkhauses Schleswig-Holstein und des NDR aufgearbeitet und abgeschlossen" – räumt aber ein, dass "nicht in allen Punkten" ein Konsens erzielt werden konnte.

Die unterschiedliche Bewertung der Frage, ob ein Interview mit dem zurückgetretenen Minister zu diesem Zeitpunkt journalistisch zielführend gewesen wäre oder nicht, halte man für "einen üblichen, normalen Vorgang im redaktionellen Tagesgeschäft".

NDR: Gespräche zum "Klima der Angst" laufen noch

Den zentralen Vorwurf, im Landesfunkhaus in Kiel werde kritische Berichterstattung durch einen "politischen Filter" behindert, weist der NDR zurück, ohne detailliert auf die Anschuldigungen einzugehen. Man verweist in der Stellungnahme lediglich auf einen Brief, in dem sich mehrere Mitglieder der Redaktion "Politik und Recherche" "unter anderem gegen den Vorwurf eines vermeintlichen 'Themen-Filters' in der Redaktion und gegen den Vorwurf von angeblich 'zu großer politischer Nähe' verwahrt haben". Zudem sei die Berichterstattung "unvoreingenommen und unabhängig".

Die Anstalt trennt die Anschuldigung, es herrsche ein "Klima der Angst" im Landesfunkhaus, von den eigentlich damit in Zusammenhang stehenden weiteren Punkten der Einflussnahme ab: Zum "Arbeitsklima im Landesfunkhaus" liefen weiterhin Gespräche, auch wenn sich die "pauschale Beurteilung" der Lage "aus Sicht des Landesfunkhauses Schleswig-Holstein nach persönlichen Gesprächen mit zahlreichen Mitarbeitenden nicht bestätigt" habe.