Bönningstedt/Hamburg. Tüftler haben die weltweit erste Inklusion-Carrera-Bahn geschaffen, auf der Kinder mit Rett-Syndrom Boliden mit ihren Blicken steuern.
Was in Celine vorgeht, kann ein Außenstehender nicht erkennen. Aber man kann es erahnen. Die sechsjährige Schwerstbehinderte lässt einen Miniaturboliden über eine Spielzeugrennbahn flitzen – auf dem Schoß ihres Vaters sitzend, ganz alleine, nur mit der Kraft ihrer Augen. Es ist ein technisches Wunder. Dass dieses Mädchen mit Rett-Syndrom ihre Hände nicht bewegen kann, erscheint noch als ein kleineres ihrer Probleme. Umso bedeutender ist das beglückende Erlebnis, selbst etwas in Bewegung zu setzen.
Es ist nicht das einzige Glücksgefühl an diesem Sonntag. Hand in Hand haben die Initiative der Eltern von Kindern mit dieser Krankheit und leidenschaftliche Fans von Carrera-Autorennen eine Benefizveranstaltung mit besonderem Charakter organisiert. Die Zutaten: Herzblut, Hilfsbereitschaft, Fantasie. Motto: Unterstützung soll Spaß machen. Noch wichtiger als unter dem Strich 2700 Euro für die sinnvolle Sache ist das Signal: Kinder, ihr steht nicht alleine da. Gemeinsam können wir viel bewirken. Das tut auch den Seelen betroffener Familienangehöriger gut.
Gas geben und Gutes tun
Der Grundgedanke entsprang einer spontanen Idee vor zehn Jahren. „Warum sollen nur Kinder mit Carrera spielen?“, fragten sich Bernhard Moskalenko und seine Kumpels. Von Jugenderinnerungen inspiriert, schritten sie zur Tat. In einem ehemaligen Fotostudio in Bönningstedt vor den Toren der Hansestadt bauten die Hamburger eine professionelle Spielzeugpiste auf: 28 Meter lang, mit allen Schikanen, vierspurig, digital. Seitdem geht’s jeden Donnerstagabend rund. Der Verein Boennering umfasst 24 Mitglieder, die sich lustvoll zum Kind im Manne bekennen. Einnahmen aus Firmenveranstaltungen tragen zur Finanzierung des Vergnügens bei.
Und da ein Hobby mehr Spaß beschert, wenn andere profitieren, wurde 2016 der Schulterschluss mit den Eltern schwerstkranker Kinder vollzogen. Daraus erwuchs ein Fest. Im Clubraum haben sich mehr als 70 Mitstreiter versammelt: Rennfahrer des Vereins Boennering, Mitglieder und Unterstützer der Elternhilfe Rett-Syndrom, Freunde, betroffene Kinder und ihre Geschwister. Die einen geben auf der Piste Gas und spenden ihr Startgeld, andere haben Kuchen und belegte Brötchen mitgebracht. Ein Supermarkt spendierte 150 Würstchen. Mütter backen Waffeln.
Tochter Melina leidet an dem Gendefekt
Für Thorsten Quast ist es eine Premiere. Er hat den ersten Kuchen seines Lebens gebacken. Schmeckt. Hauptberuflich arbeitet der Bankkaufmann als Teamleiter der Hamburger Sparkasse. In seiner Freizeit engagiert er sich gemeinsam mit Ehefrau Elke für die Elterninitiative. Beider Tochter Melina leidet an dem Gendefekt. Seitdem ist das Leben anders als früher.
„Melina braucht eine Menge Zeit und Zuwendung“, sagt Elke Quast. „In unserem Verband finden betroffene Familien und interessierte Mitmenschen eine Plattform für Themen rund um das Leben mit unseren schwer kranken Töchtern.“ In Deutschland sind die Eltern von rund 900 Mädchen und Frauen mit Rett-Syndrom in der Organisation aktiv. Die Gesamtzahl Betroffener ist nicht bekannt. Die Bandbreite dieser Krankheit ist groß. Jungen sterben fast immer schon vor der Geburt. Am Sonntag waren Mädchen im Rollstuhl dabei, indes auch eines, das – stark gestützt – langsam gehen konnte.
Kinder kommunizieren über Blicke, Gesten und Bilder
Frau Quast schildert das Angebot der Initiative. Es gibt Versammlungen, Fachvorträge und therapeutische Fortbildungen. Zudem stehen Familienwochenenden, Ausflüge und Treffen der Geschwisterkinder auf dem Programm. Melinas zwei Jahre jüngere Schwester Annika, glücklicherweise kerngesund, hat den normalen Umgang mit der Genmutation von Anfang an gelernt. „Melina versteht viel“, sagt sie, „kann sich jedoch nicht ausdrücken.“ Die Verständigung läuft über Blicke, winzige Gesten oder via iPad. Darauf installiert ist eine Software mit Tausenden Bildern, entwickelt von einer Mutter in Dänemark. So können Melina und andere Mädchen übermitteln, was ihnen am Herzen liegt.
Ähnlich funktioniert die Technik, mit der Celine und die anderen Behinderten kleine Rennautos fahren lassen. Gemeinsam mit dem Kommunikations-Pädagogen Chris Hirsch, dem Paten eines Kindes mit Rett-Syndrom, entwickelte Celines Vater Michael Rosenits eine Apparatur. Zwei Infrarotkameras erfassen die Augen der Sechsjährigen. Je weiter sie nach rechts guckt, desto mehr beschleunigt das Fahrzeug.
Weltweit erste Inklusionsrennbahn
Und so vollbringt Celine das Kunststück, ihren roten Boliden geschickt über den Kurs zu dirigieren. „Es ist die weltweit erste Inklusionsrennbahn“, sagt Mitinitiator Norbert Wüpper. Der Soziologe ist einer der vielen guten Geister, die diesen Sonntag zu einem besonderen machen. Als Celines Rennwagen durchs Ziel braust, applaudieren die Umstehenden. Sie kann mitspielen.
Das Rett-Syndrom
Im Landesverband Nord engagieren sich 70 Eltern von Kindern mit Rett-Syndrom. Von diesem Gendefekt sind fast ausschließlich Mädchen betroffen. Der Verlauf führt nach und nach zu einer schweren Mehrfachbehinderung. Die Betroffenen, von denen die meisten im Rollstuhl sitzen, benötigen in allen Lebenslagen Hilfe. Der Verein ist auf Spenden angewiesen. Mehr Information im Internet unter: www.rett-syndrom-elternhilfe.de