Bad Segeberg. Menschen, Tiere, Explosionen und Romantik: Nirgends wirkt der ewige Kampf Gut gegen Böse authentischer als bei den Karl-May-Spielen.
Über den Mittelrang reitet er in die Arena, in seinem bestickten Lederfransenkostüm, ein rotes Stirnband bändigt die schwarze Mähne. Streicherklänge setzen ein, dann die Mundharmonika. Acht Töne, unverwechselbar. Die Winnetou-Melodie.
Am Kalkberg in Bad Segeberg wird Jan Sosniok alias Winnetou in den nächsten zwei Stunden wieder gegen besessene Comanchen und gegen gierige Bleichgesichter kämpfen. Er wird sich mit Old Surehand verbünden, er wird Liebe stiften und am Ende sogar dafür sorgen, dass zwei Männer entdecken, dass sie Brüder sind. Und keine Todfeinde.
72-mal reitet Sosniok auch in diesem Sommer wieder für das Gute. Als edler Häuptling der Apachen, eine Figur, die 1874 ein verarmter Weber-Sohn und entlassener Zuchthäusler aus Sachsen ersann: Karl May. Mehr als 140 Jahre später kämpft Winnetou gegen Gegner ganz anderer Kaliber. Monster aus virtuellen Welten dominieren längst das ewige Duell Gut gegen Böse. Und gegen die 3-D-Krieger, erschaffen von globalen Entertainment-Konzernen, wirkt Winnetou so staubig wie Faxgeräte oder Diaprojektoren im Smartphone-Zeitalter.
Der vierte Zuschauerrekord in Folge
Und doch: Winnetou lebt. Er lebt sogar besser denn je. 2016 erreichten die Karl-May-Spiele das vierte Mal in Folge einen Zuschauerrekord; 366.396 Besucher in 72 Vorstellungen. Und angesichts der gut gefüllten Reihen zum Start von „Old Surehand“ deutet nichts darauf hin, dass der Boom enden könnte. Ursula und Peter Kalisch, ein älteres Ehepaar aus Tarmstedt bei Bremen, wird an diesem Sonntag bereits zum dritten Mal in dieser Saison zum Kalkberg reisen, in manchen Jahren haben sie bis zu 15 Vorstellungen besucht. Langweilig, sagt Kalisch, werde es nie: „Die Pferde reagieren immer anders. Und manchmal verändern die Schauspieler ihre Texte.“ Aber das Wichtigste: „Wir können lachen, und es ist trotzdem immer spannend.“
Wieso funktioniert Winnetou so gut? Bei der Suche nach Antworten kann es kaum einen besseren Gesprächspartner als Norbert Schultze jr. geben, einen freundlichen älteren Herrn mit Schnäuzer und Cowboy-Hut. Der Junior-Zusatz wirkt zwar ein wenig kurios bei einem 74-Jährigen. Aber er ist wichtig – seinem Vater Norbert, einem Komponisten, verdankt die Welt Evergreens wie „Lili Marleen“.
Der Regisseur war schon bei James Bond im Einsatz
Schultze jr. führt zum 17. Mal Regie am Kalkberg, ein Experte, keine Frage. Doof nur, dass er an diesem Probentag im Juni für das Abendblatt-Gespräch eigentlich gar keine Zeit hat. Die Greifvögel zicken, der TÜV hat das Stahlseil, das sich über die ganze Breite der Bühne in 16 Meter Höhe spannt, noch immer nicht für den großen Showdown in der Schlussszene freigegeben. Und das eine Woche vor der Premiere. Aber wer schon 1962 beim allerersten James-Bond-Film („James Bond jagt Dr. No“) als Aufnahmeleiter im Einsatz war, den bringt so schnell nichts aus der Ruhe.
Also erzählt Schultze jr., wie er sich vergangenes Jahr bei einer Aufführung unter die Zuschauer mischte. Da habe ein Sohn seinen Vater gefragt: „Papa, sind die Tiere echt?“
Schultze jr. ist überzeugt, dass gerade die virtuelle Welt die Sehnsucht nach dem Realen provoziere. Wo es noch nach Pferdemist riecht, wo ein Adler kreist, wo die Indianer, Cowboys und Banditen kämpfen. „Wir erzählen ein Märchen, was Eltern und Kinder gleichermaßen fesselt“, sagt Schultze. Wo das Gute am Ende siege, mit einer Botschaft der Völkerverständigung, die gerade in diesen Zeiten wichtiger sei denn je. Aber alles funktioniere nur mit der richtigen Show. Mit Stars, die sich auch mal küssen. Mit reichlich Action, gewagten Stunts, ordentlich Knallerei, Komik und Klamauk. Am Ende komme aber natürlich alles auf den richtigen Winnetou an.
Stars und Liebe
Old Surehand umarmt seine geliebte Squaw Lea-tshina, genannt Weiße Feder. „Man kann nicht gegen die Sehnsucht ankämpfen, die tief in der Seele brennt wie ein loderndes Feuer“, schmachtet die schöne Comanchen-Tochter. Worauf Old Surehand ruft: „Es gibt so viel zu sagen, so unendlich viel.“ Und Lea-tshina säuselt: „Lassen wir die Worte für später.“ Und dann, endlich, endlich küssen sie sich.
Gäbe es so etwas wie ein Kitschometer, das Schmalz auf einer Bühne messen kann, es würde vermutlich in genau dieser Szene implodieren. Auch Sila Sahin, nach 1115 Folgen „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ wahrlich Kitsch-erfahren, fragte bei den Proben, ob das nicht alles einen Tacken zu viel sei. Also eilte Autor Michael Stamp herbei, der mittlerweile zum 19. Mal das Drehbuch für den Kalkberg geschrieben hat. Stamp änderte die Szene – aber statt sie zu entkitschen, verdoppelte er auf Bitten von Schultze jr. und Produktionsleiter Stefan Tietgen die Schmuse-Dosis.
Schon bei der öffentlichen Generalprobe zeigt sich, dass die Macher ihr Publikum kennen. Mehr Applaus als das küssende Paar erhält nur Winnetou bei seinem Abschiedsritt.
„Die Leute wollen diese Romantik“, sagt Schultze. Heile Welt. Karl May hätte Tietgen und ihn für diese Szene wahrscheinlich an den nächsten Marterpfahl gefesselt. Aber zum einen steht auf dem Programm „frei nach Karl May“. Und zum anderen ist frenetischer Beifall schon ein exzellentes Argument. Der Kalkberg ist nun mal nicht Kampnagel, die Hamburger Bühne, die regelmäßig Überraschendes wagt. Sondern Mainstream, wie Geschäftsführerin Ute Thienel freimütig bekennt. Wer nach Bad Segeberg fährt, will Explosionen, keine Experimente.
Das wichtigste ist das Ensemble
Für die Sparte Liebe hätten Schultze und Tietgen keine besseren Protagonisten finden können als Alexander Klaws, einst Star der Sat.1-Telenovela „Anna und die Liebe“, dann Hauptdarsteller in Musicals wie „Tarzan“, und Sila Sahin. Die beiden sind ein schönes Paar. Und natürlich schadet es den Besucherzahlen nicht, wenn Winnetou mit Schlagzeilen wie „Heiße Küsse am Kalkberg“ auch mal Richtung Regenbogenpresse reiten darf.
Kaum etwas ist für die Karl-May-Spiele so wichtig wie das Ensemble. Gesetzt sind nur wenige: selbstredend Jan Sosniok, schon im fünften Jahr als Winnetou am Kalkberg. Joshy Peters, Stammgast seit 1987, diesmal als Bösewicht Old Wabble. Oder Harald Wieczorek, jetzt in einer Doppelrolle als Cowboy und als sterbender Indianer-Häuptling: Er war schon am Kalkberg im Einsatz, als Klaws und Sahin noch nicht einmal geboren waren.
Für die anderen gilt: Der Wechsel ist Programm; die vielen Wiederholungstäter unter den Segeberg-Fans wollen auch neue Gesichter am Marterpfahl sehen. Klaws und Sahin bedienen in diesem Jahr das junge Publikum. Auch deshalb kann Ute Thienel zufrieden sagen: „Es kommen deutlich mehr junge Erwachsene, teilweise auch in Gruppen. Ich habe mich schon gefragt, ob die erst zu Karl May gehen und hinterher in die Disco.“
Auch Mathieu Carrière ist dabei
Für die ältere Klientel hat Segeberg in dieser Spielzeit Mathieu Carrière verpflichtet. Carrière, der am 2. August seinen 67. Geburtstag feiern wird, drehte schon mit Romy Schneider, Gudrun Landgrebe und Peter Ustinov. Ihn nun am Kalkberg zu erleben, fasziniert – und schmerzt. Darsteller wie Klaws oder Sahin liefern solide Arbeit, Joshy Peters überzeugt als mieser Indianer-Töter. Doch Carrière als Bösewicht General Douglas spielt schlicht in einer anderen Liga. Wie er mit Zigarre, weißer Mähne und schwarzem Gehstock „Ein Fiesling im Weißen Haus? Wer glaubt denn so was?“ zischt, ist einfach großes Theater. Und es tut weh, dass sich ein Schauspieler dieser Klasse aus finanziellen Gründen 2011 ins Dschungelcamp verirrte.
Schon 2000 gehörte Carrière als Ölprinz zum Ensemble. Damals, so sagt er, habe ihn „Winnetou gerettet, ich war in einer ganz schwierigen Situation, auch wirtschaftlich“. Gescheiterte Ehe, Unterhaltszahlungen. Bereut hat er sein Engagement nie, auch wenn eine Sonntagszeitung damals über den „Friedhof am Kalkberg einstiger Fernsehhelden“ spottete. „Ich war als Jugendlicher schwer verliebt in Winnetou, in diese Art Schamane zwischen den Welten des Kindes und des Erwachsenen“, sagt Carrière. Für ihn sind die Karl-May-Spiele „ein Passionsspiel mit Happy End. Geschrieben vom Walt Disney des 19. Jahrhunderts.“
Reiter-Qualitäten sind gefragt
Dank seiner Prominenz und seiner Klasse kann sich Carrière auf das eine oder andere Privileg verlassen, die Proben etwa wurden so geplant, dass der Wahlhamburger nicht lange auf seine Einsätze warten musste. Und doch gilt auch Carrière als Mannschaftsspieler, alles andere würde das Projekt gefährden: „Teamfähigkeit ist enorm wichtig, Starallüren können wir uns bei diesem engen Probenplan nicht leisten“, sagt Tietgen. Am besten könne man seine Arbeit als Produktionschef mit dem Job eines Fußballtrainers vergleichen: „Wir brauchen elf Spieler, die sich gegenseitig die Bälle zuspielen können.“
Kick-Künste helfen allerdings am Kalkberg herzlich wenig. Reiter-Qualitäten sind gefragt. Tietgen braucht Reiter, gute Reiter. Wer einen Job am Kalkberg will, muss aufs Pferd. Tietgen, einst Reit-Statist am Kalkberg, sagt, er sehe sofort, ob es ein Bewerber lernen könne. Oder eben nicht.
Show und Komik
Auf dem Wasserturm haucht General Douglas am Ende sein böses Leben aus. Zehn Meter stürzt er in die Tiefe, während die Welt um ihn in Flammen aufgeht.
Das rote Schild „Vorsicht, nur Stunt!“ stoppt selbst Regisseur Norbert Schultze jr. beim Gang durch die Kulissen des Kalkbergs. „Hier wird es gefährlich“, warnt Schultze. Nur die neunköpfige Stuntcrew um den gebürtigen Ungarn Steve Szigeti darf hier weiter. Der Weg führt zum Wasserturm, wo natürlich nicht Carrière in die Tiefe springt, sondern sein Double.
„Diese Aktion ist wirklich riskant“, sagt Szigeti. Er deutet auf die vielen Umzugskartons, gestapelt nach einem genau ausgeklügelten System auf dicken Matten. „Kartons verzeihen eher einen Fehler“, sagt Szigeti.
Der Stuntprofi könnte auch in einem Budapester Gericht einen Mörder verteidigen, er hat als Jurist über die Rehabilitationschancen von Straftätern promoviert. Stattdessen doubelt er seit zehn Jahren vor allem die bösen Jungs in Segeberg. Die Liebe zur Action war für den ehemaligen Weltmeister im Modernen Fünfkampf stärker.
Szigeti hat schon bei Großproduktionen an der Seite von Hollywoodgrößen wie Arnold Schwarzenegger gedreht. Und doch ist für ihn jede Aufführung in Bad Segeberg eine besondere Herausforderung: „Im Film kann man auch misslungene Stuntszenen so zusammenschneiden, dass sie dennoch großartig wirken. Live wie hier am Kalkberg funktioniert das nicht.“
Die Nähe der Zuschauer ist ein Problem
Die unmittelbare Nähe der Zuschauer – die erste Reihe trennt nur eine Armlänge vom Bühnenrand – macht die Sache nicht einfacher. „Die Besucher sollen ja nicht merken, dass wir die Stars bei gefährlichen Szenen austauschen.“ Wochenlang sucht er bei den Proben mit Regisseur Schultze nach dem richtigen Moment, wo aus einem Star ein Stuntman wird. Großen Respekt hat Szigeti auch im zehnten Segeberger Jahr vor den Szenen, wenn er oder einer seiner Kollegen brennend aus dem Saloon stürzt. Szigeti kauft nur die beste Sicherheitskleidung, jeder Stuntman cremt jede freie Körperstelle zuvor mit einer Spezialsalbe ein, vor allem die Augenbrauen sind gefährdet. Und dennoch kommt es auf jede Sekunde an. „30 Sekunden sind okay, spätestens ab 50 Sekunden wird es heiß und gefährlich.“ Vor allem bei einem plötzlichen Windstoß.
Die größte Gefahr aber sei die Routine, sagt Szigeti. Wenn bei 40 Vorstellungen alles glatt gegangen sei, lasse die Aufmerksamkeit schon mal nach. Dann wird der freundliche Mann mit der grauen Schirmmütze auch mal laut: „Burschen, passt gefälligst auf.“
Die Sorge vor nachlassender Sorgfalt teilt Szigeti mit Uwe Preuss, als Sprengmeister vom Kalkberg für alle Feuereffekte und Explosionen zuständig. Preuss muss nicht sagen, dass er aus der Hauptstadt kommt, sein Dialekt verrät ihn sofort als Berliner.
Einmal brannte ein Zelt ab
2000 übernahm er den Job des Profi-Zündlers in Bad Segeberg. Der Grat, auf dem er es krachen lässt, ist schmal. Auf der einen Seite erwarten zumindest die jugendlichen Zuschauer, dass es ordentlich rummst. Aber andererseits darf er Oma und Opa nicht zu sehr erschrecken. Und erst recht nicht die Anwohner, der Kalkberg liegt schließlich mitten in einem Wohngebiet.
Wenn sich am 2. September die Schauspielerschar ein letztes Mal für diese Saison verneigen wird, hat Preuss 1200 Explosionen gezündet und 1500 Liter Propangas verbrannt.
Hinter den Zahlen steckt eine ausgefeilte Logistik. Oberstes Gebot: Sicherheit. Am Kalkberg wird nur auf Sichtkontakt gezündelt. Mit seinem Sohn und einem weiteren Kollegen versteckt sich Preuss hinter den Kulissen, unsichtbar für die Zuschauer, aber mit Blickkontakt zu den Schauspielern: „Wir müssen immer sehen, ob einer der Darsteller mal an einem nicht vorgesehenen Punkt steht. Wir könnten ihn sonst schwer verletzen.“ Bei einer Probe vor Jahren stand einmal ein Zelt bei einem Feuerstoß falsch, es brannte komplett ab – zum Glück hielt sich weder ein Bleichgesicht noch eine Rothaut in diesem Wigwam auf. Seitdem gibt es am Kalkberg nur noch Zelte aus nicht brennbarem Material.
Auch Patrick L. Schmitz sorgt in gewisser Weise für ein Feuerwerk. Als französischer Meisterkoch François zeichnet der Wiesbadener in diesem Jahr am Kalkberg für die Abteilung Komik verantwortlich. Seine Gags wie „Der ’at ein Gesischt wie eine Sauce bolognese, isch wollte nicht ’ackfresse sagen“ zünden zwar nicht so zuverlässig wie das Schwarzpulver von Uwe Preuss. Für die Inszenierung ist Schmitz, der mit steinhartem Baguette und eine Bratpfanne die Bösewichte in Serie k. o. schlägt, dennoch immens wichtig. Wo so hart gekämpft und so feurig gestorben wird, braucht es Slapstick als Gegenpol.
Winnetou und Werte
„Die Kraft der Liebe ist die stärkste, die Manitu je schuf. Sie bringt Herzen zum Schmelzen wie die Strahlen der Sonne den gefrorenen Fluss am Ende des Winters. Und sie bringt Augen zum Leuchten, heller als die Sterne am großen Dach über der Prärie. Wir alle tragen diese Kraft in uns. Tief in unseren Herzen!“
Wer Winnetou bei seinen Schlussworten lauscht, ihn dann zu den einsetzen Klängen der Karl-May-Titelmelodie ein letztes Mal an diesem Abend gen Mittelrang reiten sieht, denkt unwillkürliche an Pierre Brice. Jan Sosniok gleicht dem Franzosen auch äußerlich frappierend.
Pierre Brice. Der ewige Apache seit den Karl-May-Filmen der 1960er-Jahre. „Niemand wird ihn vom Thron stürzen können. Er war absolut authentisch und hatte in der Rolle eine unheimlich starke Aura, er hat der Figur auch eine gewisse Unnahbarkeit gegeben, etwas Magisches“, sagte Sosniok, als die Legende im Juni 2015 starb.
Traurig war auch Ernst Reher über die Todesnachricht. Mit Brice verband den langjährigen Geschäftsführer der Kalkberg GmbH weit mehr als der Jahrgang 1929. Reher tippt auf ein Foto, das 1999 entstand, als er als Geschäftsführer der Spiele verabschiedet wurde. „Damals kam Pierre Brice auf die Bühne und sagte: ‚Ich bin Pierre, darf ich Ernst sagen?“ Der Beginn einer Duz-Brüderschaft.
Bei Pierre Brice kamen 100.000 mehr
„Vielleicht würde es die Karl-May-Spiele ohne Pierre Brice nicht mehr geben“, sagt Reher. Als er 1987 nach Wien flog, um Brice von einem Engagement am Kalkberg zu überzeugen, kriselten die Spiele. Die Zuschauerzahlen gingen zurück, Bad Segeberg brauchte eine Blutauffrischung. Und nie war der Zeitpunkt günstiger: Brice hatte seinen Dienst bei der sauerländischen Karl-May-Konkurrenz in Elspe quittiert, tingelte mit einer eigenen Winnetou-Show durch die Lande.
Reher war klar, dass Brice nicht für die in Bad Segeberg üblichen Gagen zu verpflichten war, andererseits konnte niemand seriös prognostizieren, ob der fast 60-jährige Brice noch zum Kassenmagneten taugen würde. Reher schlug Brice vor, ihn am Umsatz zu beteiligen, ab 160.000 Zuschauer in der Saison sollte der Franzose für jeden Besucher ein Extrasalär bekommen. Hella Brice, Ehefrau und hart verhandelnde Managerin, forderte, dass auch Freikarten eingerechnet werden sollten, doch da blieb Reher stur. So entstand der wohl beste Deal in der Geschichte der Spiele. Für beide Seiten. Bereits in der ersten Saison mit Brice kamen 100.000 Zuschauer mehr.
Brice rettete die Karl-May-Spiele zweimal
1999 kehrte Brice als Regisseur an den Kalkberg zurück und rettete, wie Reher sagt, die Karl-May-Spiele ein zweites Mal. Es ist der 29. Juni 1999, ein später Dienstagabend, Rehers Abschiedssaison hat gerade begonnen, als sein Telefon klingelt. „Herr Reher, der Berg brennt“, sagt der Anrufer nur. Vor Ort sieht Reher das Inferno. Die Kulisse steht in Flammen, der Kunstfelsen ist nur noch eine zusammengeschmolzene Ruine. Doch Reher denkt nicht an den Schaden, nur an die nächste Vorstellung am Donnerstag um 15 Uhr. Die, sagt er sofort, müssen wir retten. Soldaten eilen herbei und Segeberger Handwerker, sie arbeiten Tag und Nacht durch. Am Donnerstag fährt um 14.30 Uhr der letzte Lkw von der Bühne, 30 Minuten später beginnt die Aufführung. Pierre Brice, herbeigeeilt aus seinem Landsitz bei Paris – seine Arbeit war ja eigentlich beendet –, hatte die Inszenierung binnen einer Nacht umgeschrieben. Winnetou, auferstanden aus Ruinen, diese Form des Miteinanders hätte Karl May gefallen.
Im Blockhaus im Schatten des Kalkbergs stehen die Karl-May-Bände mit dem klassischen grün-goldenen Rücken dicht an dicht. Ekkehard Bartsch (74) hat sie alle gelesen, zigmal. Wer zu ihm ins Indian Village kommt, will nichts wissen über Franzosen-Klamauk, Liebe am Marterpfahl oder Explosionen auf Wassertürmen. Bartsch hat zwar kein Problem mit Pyro und Verbotene-Liebe-Küssen; wenn es dem Zuschauer gefalle, sei es doch völlig in Ordnung. Ihn aber interessiert der wahre Karl May: Seitdem er als 13-Jähriger „Unter Geiern“ verschlang, lässt ihn Winnetou nicht mehr los. Als Buchhändler gründete er die Karl-May-Gesellschaft, er schrieb an Neufassungen mit, kaum jemand weiß so viel wie Bartsch über den Schriftsteller, dessen Bücher allein im deutschsprachigen Raum 100 Millionen Mal verkauft wurden.
Karl Mays Botschaf ist aktueller denn je
Der Absatz habe in den letzten Jahren nachgelassen, sagt Bartsch. So gesehen habe der Fluch des Internets auch Winnetou eingeholt. Aber das Interesse am Häuptling der Apachen sei ungebrochen, regelmäßig bittet Bartsch nach Aufführungen noch zu Lichtbildvorträgen – er sagt wirklich „Lichtbildvorträge“ – über das Werk des Sachsen.
„Karl May war seiner Zeit weit voraus, er hat schon im 19. Jahrhundert über das friedliche Zusammenleben aller Kulturen und Rassen geschrieben“, sagt Bartsch. So gesehen sei seine Botschaft aktueller denn je.
Während Bartsch dann Bücher und Postkarten verkauft, bereitet sich nur ein paar Meter weiter Mathieu Carrière auf seinem ersten Einsatz als diabolischer General Douglas vor. Als wir ihn zwei Wochen zuvor bei Proben trafen, sagte er noch: „Eigentlich müssten wir gemeinsam zum G20-Gipfel nach Hamburg reiten, um dort mit allen eine Friedenspfeife zu rauchen.“
Rückblickend wäre das eine gute Idee gewesen.
Mitarbeit: Frank Knittermeier