Das Abendblatt will es wissen. Zwei Reporter berichten vier Tage von ihren Erlebnissen. Nordsee oder Ostsee? Machen Sie mit.
Mit der Bahn, einem gepackten Rucksack und einem Budget von jeweils 500 Euro machen sich Matthias Iken, 46, und Juliane Kmieciak, 32, auf den Weg und tauschen vier Tage lang Schreibtisch gegen Strandkorb. Täglich werden sie in längeren Texten, kurzen Posts, Fotos und Videos von ihren Erlebnissen berichten. Auf Sylt rät die Hotelmitarbeiterin am ersten Tag, "bei dem Wetter bloß keinen Spaziergang zu machen". An der Ostsee war ebenfall miserables Wetter vorhergesagt. Aber in Timmendorf scheint die Sonne am leeren Strand.
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Ostsee, Juliane Kmieciak
Oh, wie schön, mit dem Rücken liege ich auf dem sonnenwarmen Strand. Die Augen sind geschlossen. Ich lausche nur dem Klang der Wellen. Obwohl Wellen eigentlich übertrieben ist. Im Grunde macht es einfach nur sehr regelmäßig schwapp. Ganz unaufgeregt. Wozu auch Aufregung? Wasser am Strand ist ja etwas ziemlich Normales.
Dass ich hier mit nackten Füßen an einem Montagmorgen faulenze, ist dagegen nicht so normal. Eigentlich würde ich jetzt längst am Schreibtisch sitzen. Vor nicht einmal eineinhalb Stunden habe ich mich in Hamburg in den Zug gesetzt. Mit dem ICE nach Lübeck und von da mit der Regionalbahn nach Timmendorf. Zum Glück ist der Bahnhof so gelegen, dass man ganz bequem in 15 Minuten an den Strand laufen kann.
Und jetzt liege ich hier und muss die ganze Zeit schmunzeln. Das Wetter war eigentlich ziemlich miserabel vorhergesagt. Aber davon ist hier nichts zu sehen. Die Sonne hat den Morgen an der Lübecker Bucht in warmes und etwas milchiges Licht getaucht. Timmendorf dampft. Über Nacht hat es hier kräftig gewittert. Die Wärme des Vortages aber ist geblieben. „Waschküche“ würden einige vielleicht sagen. Ich sage: perfekt. Meine Schuhe in der Hand, laufe ich den Strand ein Stück am Wasser entlang. Keine Menschenseele weit und breit. Das nenne ich mal exklusiv. Halt, da vorne ist doch wer.
Ein Mann mittleren Alters mit Beinen so braun gebrannt, wie es meine selbst nach drei Wochen Karibik nicht wären. Er klappt ein paar Aufsteller auf, und schiebt und werkelt an einem unbesetzten Strandkorb rum. „Noch wenig los“, murmelt er. „Liegt an diesen WetterApps.“ Seit ein paar Jahren arbeitet Axel – so heißt der Mann mit den braunen Beinen – „just for fun“ hier beim Strandkorbverleih Anders. „Früher sind die Leute einfach losgefahren, wenn sie Lust auf Meer hatten. Heute checken sie ständig die Wetterdienste und fahren dann im Zweifel doch nicht.“
Axel kommt eigentlich aus Hamburg-Blankenese. Aber irgendwann hatte er keine Lust mehr auf Job und Stadt. Und Timmendorf – die „Badewanne der Hamburger“ – kannte er noch von früher. Hier, so sagt er, sei alles easy, „normale Leute und nicht so Schickimicki. Hier kann man einfach mit Shorts und Flipflops ins Restaurant gehen. Da guckt keiner.“
Nach dem netten Plausch geht es für mich weiter. Jetzt mit Schuhen. In weiten Teilen ist Timmendorf ein Park. Zahlreiche Grünzüge ziehen sich an der Promenade entlang. Vorbei an Herrenhäusern, dem historischen Rathaus und klassischer Bäderarchitektur. Und fast überall ist es herrlich ruhig. Nur in der Fußgängerzone ist schon richtig was los. Von wegen „kein Schickimicki“. Hier reihen sich die Designerläden nur so aneinander. Und wer nicht nur sehen, sondern auch gesehen werden will, der hat sich längst einen Platz im Café Wichtig ergattert. Showsitzen mit dicken Sonnenbrillen und einem Glas Champagner oder Aperol Spritz.
„Eigentlich heißt das Café ja Engelseck“, erzählt der Eigentümer Jan Schumann. „Aber irgendwann hat es die „Bild“-Zeitung halt Café Wichtig getauft und seitdem heißt es eben so.“ Aber bei genauerem Hinschauen sehen die meisten Leute hier auf der Terrasse eigentlich gar nicht so schrecklich wichtig aus. Sondern eher ziemlich entspannt und normal. Selbst, wenn der Ostwind ein paar Meter weiter am Strand die Luft schnell abkühlt, lässt es sich hier noch lange im T-Shirt aushalten, sagen die Gäste am Nebentisch. Heute aber ist überall in Timmendorf T-Shirt-Wetter.
Mein Hotelzimmer hatte ich vor meiner Abreise schon organisiert (Park-Hotel am Kurgarten, 106 Euro mit Frühstück, Vier-Sterne-Komfort im Gründerzeitstil). Was in der Welt sollte mich also davon abhalten, mir hier den ersten Sonnenbrand des Jahres zu holen? Dazu einen Cappuccino für 3,60 Euro. So lässt es sich ganz gut aushalten.
Schumann erzählt, dass viele Hamburger Tagestouristen morgens um sieben Uhr losfahren, um beim Frühstück schon bei ihm in der Sonne zu sitzen. „Das Urlaubsgefühl stellt sich dann nach einer Sekunde ein“, meint er. Womit er recht hat.
Ich jedenfalls bin seit Sekunde eins ungefähr drei Gänge runtergefahren. Hamburg, der Verkehr, die volle U-Bahn, der Lärm – das alles fühlt sich sehr weit weg an. Nach einem kurzen Strandspaziergang geht es für mich ins Hotel. Einchecken und kurz ausruhen. Und dann ganz schnell wieder raus – in den Urlaub um die Ecke.
Nordsee, Matthias Iken
Nah vor das Paradies hat der liebe Gott die Nordostseebahn gelegt. Mal kommt Hamburgs Sylt-Anschluss als mobiler Meditationsraum daher, mal eher als Vorhölle. Mittags unter der Woche ziehen die einsamen Marschen des Nordens mit ihren schwarz-bunten Tupfern am Fenster vorbei, unterbrochen von Ortschaften mit so lustigen Namen wie Lunden, Langenhorn oder Klanxbüll; auf halber Strecke versucht sich der Zug als Flugzeug und schwebt über den Nord-Ostsee-Kanal.
Eine Zugfahrt kann herrlich sein. Oder das komplette Gegenteil davon. Rund ums Wochenende, wenn lärmende Schulkinder, bierselige Junggesellen oder grölende Fußballfans die Großraumabteile entern. Und sich die 220 Kilometer in die Länge ziehen. Drei Stunden im Zuge vergehen wie im Fluge oder wie ein französischer Autorenfilm im Original ohne Untertitel. Aber spätestens auf dem Hindenburgdamm ist alles egal. Endlich Nordsee, endlich Luft, endlich Weite!
„Alle Sinne sind im Augenblick des Betretens der Insel von dieser vollauf in Anspruch genommen und ausgefüllt, und das Gemüt ist entweder verschüchtert oder betäubt oder beseligt“, schwärmte einst der Verleger Peter Suhrkamp. „Die Insel kann wüst, öde und lichtlos angetroffen werden, auch in einer hellen Nüchternheit, einer frühen Klarheit, auch als seliger Spiegel überirdischer Schönheiten, aber nie ist sie nur einfach schön und gar lieblich ... Sie ist nie dieselbe und doch stets unverkennbar die Insel.“
Leider hat sich Sylt heute für öde und lichtlos entschieden. Der Regen fällt fein-fisselig aus nebelgrauen Wolken, die Insel ist trotzdem gut gebucht. Sehr gut gebucht. Zu gut gebucht. Ein Zimmer zu finden, gestaltet sich schwieriger als gedacht – trotz Nebensaison. Nach mehreren Fehlversuchen werde ich in der Westerländer Elisabethstraße fündig, im Haus Diana aus den 50er-Jahren. Aus Westerlands Wirtschaftswunderjahren, als die Insel boomte, Hochhäuser in Beton gegossen wurden und Lokalpolitiker vom „St. Tropez der Nordsee“ halluzinierten.
Haus Diana ist norddeutsch-backstein-bodenständig. Familiengeführt, unprätentiös und mit 69 Euro inklusive Kurzbucherzuschlag erstaunlich günstig. Die Frage „Was tun beim Regen“ regiert an der Rezeption. Hotelmitarbeiterin Angelika Biegel rät zur Therme oder zum Bummel in der Friedrichstraße. „Einkaufen geht immer, zumindest für Frauen. Ich käme ja nicht darauf, bei dem Wetter einen Strandspaziergang zu machen.“
Ich schon, Regenjacke raus und los. Nur wohin? Im Grau auf Westerlands Strandpromenade würde man im Schatten der grotesken Bausünden der Vergangenheit schwermütig. Die schönsten Strände liegen im Norden, auf dem wild-urwüchsigen Ellenbogen und zwischen List und Kampen. Wo die Strände Namen wie Abessinien, Samoa, Sansibar tragen, träumt sich Sylt seit Jahrzehnten in südlichere Sommer.
Nur wirkt der Bus, der am Bahnhof steht und nach List fährt, eher wie ein Linienbus in Pinneberg: Menschen mit Koffern, Schulklassen und Senioren in Jack-Wolfskin-Jacken drängen nordwärts. Zwischen List und Kampen entkomme ich der deutschen Durchschnittlichkeit und verlasse den Bus.
Schon wenige Meter abseits der Straße liegt ein anderes Sylt da – durch eine menschenleere Einsamkeit bummele ich zur Uwe-Düne. Ihre 52,5 Meter habe ich für mich ganz allein. Alfred Kerr lobte einst auf Sylt das immer gleiche Gefühl: „Kein Mensch, aber zwei Meere.“
Hier oben beginnt man zu ahnen, was er meinte. Über das rote Kliff führt der Weg zurück in die Zivilisation, der Nordwind beschleunigt den Wanderer. An dieser Stelle trifft der Geestkern, dem die Insel ihr Dasein und Noch-Sein verdankt, direkt auf die See. Hier knabbert der Blanke Hans Meter um Meter, hier spült der nordfriesische Regen Kilo um Kilo ins Meer. Das permanente Schaffen und Vergehen machen das Kliff zu einem magischen Ort – und zaubert den wenigen Wanderern ein versonnenes Lächeln ins Gesicht.
Die Prankenschläge der See sind es, die Sylt so besonders machen; die wilde Urkraft der Nordsee hat der Insel ihre eigenartige Form verliehen. Sylt atmet eine besondere Vergänglichkeit, die den Reiz ausmacht. Erst mit jedem weiteren Meter Richtung Skyline von Westerland verweht das Mystische, werden die frei fliegenden Gedanken eingefangen. Aber am Ende einer langen Strandwanderung hadert man nicht zu sehr mit ein wenig Zivilisation: Ein gezapftes Bier, ein frischer Fisch und ein Abend in der Sylter Welle haben auch ihr Gutes.