Friedrichskoog/Hamburg. Acht tote Pottwale liegen im Wattenmeer – die größte Strandung der Meeressäuger in Schleswig-Holstein. Die Bergung soll heute starten.
Bruno und Heike Waschelewski stellen ihr Auto hinter dem Deich ab. Sie tragen Gummistiefel, ein Fernglas und sind bestens gerüstet, bei Windstärke 8 auf die Deichkrone zu steigen. Noch wissen die beiden Dithmarscher nicht genau, welches Bild sich dahinter bietet. Aber sie haben es im Radio gehört und in der Zeitung gelesen: Acht Pottwale liegen tot am Strand, knapp zwei Kilometer hinter dem Deich von Kaiser-Wilhelm-Koog (Schleswig-Holstein.
Es ist Dienstagvormittag, und die schmale, asphaltierte Deichstraße erlebt ein Verkehrsaufkommen wie selten zuvor. Seit die Nachricht bekannt wurde, dass hier bis zu zwölf Meter lange Pottwale starben, sind Dutzende Küsten- und Naturschützer vor Ort; auch die örtliche Polizei zeigt Präsenz. Mehrere Kettenfahrzeuge warten auf ihren Einsatz, um die Tiere aus dem Watt zu hieven. Alles ist vorbereitet, für die größte Pottwalbergung, die Schleswig-Holstein je erlebt hat.
Zwar waren erst im Januar insgesamt sieben dieser Meeressäuger auf Wangerooge und Helgoland, in Dithmarschen und Bremerhaven verendet. Aber der neue Fund sprengt alle bisherigen Dimensionen. Die Massenstrandung an der deutschen Nordseeküste wirft erneut die Frage auf, warum sich diese Jungtiere in die flachen Gewässer der Nordsee verirrt haben. Bei ihrer Wanderung von Norwegen wählten sie nicht ihre traditionelle Atlantik-Route Richtung Azoren in gut 1000 Meter tiefe Gewässer, sondern die in die nur knapp 100 Meter tiefe Nordsee. Das Wattenmeer wurde für sie zur Todesfalle. Bruno und Heike Waschelewski ziehen ihre Mütze tief ins Gesicht, als Sturmböen über die Salzwiesen peitschen. Die beiden stehen inzwischen auf dem Deich. „Das“, sagen sie, „haben wir noch nie gesehen.“ Wie graue U-Boote ragen die toten Riesen aus dem Meer. Schemenhaft sind die Schwanzflossen zu erkennen, während ihre Körper im Meer versinken.
Für die 15 Einsatzkräfte des Landesbetriebs für Küstenschutz ist die Sache schnell klar: Gegen elf Uhr wird entschieden, dass die Bergung der Kadaver wegen des Sturmes unmöglich ist. Das Niedrigwasser fällt um einen Meter zu hoch aus. „Aber wir wollen es an diesem Mittwoch erneut versuchen“, sagt Hendrik Brunckhorst, Sprecher des Landesbetriebes für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein. Wenn die Bergung klappt, werden die Meeressäuger auf einem Bundeswehrgelände bei Meldorf von Experten der Tierärztlichen Hochschule Hannover obduziert.
Immer mehr Autofahrer suchen derweil einen Parkplatz hinter dem Deich, keine fünf Kilometer von Friedrichskoog entfernt. Eltern mit ihren Kindern sind genauso unterwegs wie jene zwei Leute, die gerade mit einem Hund durch die Salzwiesen Richtung Wale waten. Ranger Michael Beverungen ist entsetzt. Er schaut durch sein Fernglas und hofft, dass seine beiden Kollegen die neugierigen Strandläufer vom Whale Watching abhalten. Doch aus der Ferne sieht er, dass sie sich nicht an die Anordnungen halten.
Die Nationalparkverwaltung hat nach dem Pottwalfund ein Betretungsverbot ausgesprochen. Ranger Beverungen zeigt ein Schild, das vor Explosionsgefahr warnt. „Wenn die Leute zurückkommen, werde ich sie mir vorknöpfen und sie ermahnen“, verspricht er.
Tatsächlich entstehen durch die Verwesung der Tiere gefährliche giftige und entzündbare Gase. „Ich“, sagt der Ranger und zeigt auf sein rechtes Ohr, „würde mich jetzt nicht neben einen Kadaver stellen.“ Eine Explosion könne beim Menschen Gehörschäden auslösen. „Und rauchen würde ich in Walnähe auch nicht“, fügt er hinzu.
Bis die Kadaver geborgen sind, wird die Polizei hier regelmäßig patrouillieren. Es geht schließlich auch darum, Elfenbeinjäger fernzuhalten. Zu den ersten Maßnahmen an Land gehört es deshalb, die Unterkieferknochen zu entfernen.
Unterdessen kreist ein Kleinflugzeug über dem Fundort, um danach weiter aufs Meer hinauszufliegen. An Bord sind Experten der Umweltschutzorganisation Greenpeace. Sie halten aus der Luft Ausschau nach anderen Walen, die wie diese Gruppe ins Wattenmeer geraten sein könnten.
Auf dem Deich steht Greenpeace-Mitarbeiterin Lisa Maria Otte. Die 33-Jährige trägt eine grüne Greenpeace-Jacke und stemmt sich gegen den Sturm. „Was für ein Drama“, sagt sie. „Der Tod dieser Tiere löst bei uns ganz viele Emotionen aus.“ Vielleicht, betont sie, könnten mit dem Aufklärungsflug weitere Wale gerettet werden. Mit neun Meter langen Schlauchbooten warten Greenpeace-Aktivisten bei Brunsbüttel auf ihren Einsatz. „Sie würden versuchen, Wale zurück in den Atlantik zu scheuchen, damit sie überleben können.“ Am Abend wird ihr Kollege Jörg Feddern berichten, dass zunächst keine weiteren Pottwale in der südlichen Nordsee gesichtet wurden.
Warum die Pottwale bei ihrer Wanderung zu den Azoren von ihrem Weg abgekommen sind, bleibt noch ungeklärt. „Dafür“, sagt Hendrik Brunckhorst, „gibt es unterschiedliche Erklärungsmodelle.“
Greenpeace-Wissenschaftler halten es zum Beispiel für wahrscheinlich, dass Unterwasserlärm schwere Schäden im hoch entwickelten Gehör auslöst. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich nämlich der Lärmpegel in den Weltmeeren vervielfacht. Vor allem die Erkundungsexplosionen für die Ölförderung, aber auch Schiffslärm und militärische Schallexperimente tragen dazu bei, dass die Tiere sich nicht mehr orientieren können. „Sie sind dann wie blind“, sagt Arktis-Expertin Lisa Maria Otte. Und ein Wal, der sich nicht orientieren kann, vermag nicht mehr zu fressen, verliert womöglich seine Gruppe und läuft Gefahr zu stranden. Im März 2000 waren 17 Wale auf den Bahamas gestrandet, nachdem die US-Navy intensive Tests mit mittelfrequenten Sonarquellen durchgeführt hatte.
Vielleicht sind die Tiere durch Störungen in den Magnetfeldlinien irritiert
Küstenschützer Brunckhorst bringt noch ein anderes Erklärungsmodell ins Spiel, als am Dienstagnachmittag immer mehr Neugierige an den Deich von Kaiser-Wilhelm-Koog kommen. Das Schicksal dieser Meeressäuger wird zum Dithmarscher Publikumsmagneten. „Möglicherweise“, sagt Brunckhorst, „spielt auch die Aktivität der Sonne eine Rolle.“ Wenn sie viel ionisierendes Material ausstößt, hat das einen Einfluss auf das Magnetfeld der Erde. Während für den Menschen solche Veränderungen nicht wahrnehmbar sind, merkt sie der Wal auf jeden Fall: Er orientiert sich an den Magnetfeldlinien der Erde, die durch eine verstärkte Sonnenaktivität verändert werden.
Bruno und Heike Waschelewski sind inzwischen auf dem Weg zurück ins Auto. Auch sie rätseln über die Ursache der tödlichen Walwanderung. „Es sind bestimmt die Windkraftanlagen, die im Meer stehen“, meint das Ehepaar. „Die Pottwale sind doch nicht dumm und schwimmen hierher.“
Ein weiterer Bergungsversuch soll heute am späten Vormittag starten – vorausgesetzt, Witterung und Wasserstand spielen mit. Schleswig-Holsteins Umweltminister Robert Habeck (Grüne) wird sich über die Lage vor Ort informieren.