Hamburg/Ahrensburg. Archäologen entdecken an der geplanten Trasse der S 4 zahlreiche Fundstücke und Spuren einer Lagerstelle aus der Eiszeit.

Es ist eine archäologische Schatzkiste, eine mit bis zu 15.000 Jahre alten Artefakten, durch die in etwa zehn Jahren die Waggons der geplanten S-Bahnlinie 4 auf ihrem Weg von Hamburg-Altona nach Bad Oldesloe fahren sollen. Das sagt Ingo Clausen vom Archäologischen Landesamt Schleswig-Holstein über das Stellmoor-Ahrensburger Tunneltal. Er steht ebenda, an der Landesgrenze zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein, genauer gesagt, neben den Schienen der Fernbahn. Er hält einen Rentierknochen aus der Eiszeit in der Hand und lächelt mit Blick auf das Fundstück.

Der etwa 12.000 Jahre alte Knochen ist eines der ungezählten Fundstücke, das die Archäologen und ihre Helfer in den letzten drei Monaten bei den Ausgrabungen gefunden haben. Im Auftrag der Deutschen Bahn haben die Experten an unterschiedlichen Stellen entlang der geplanten Trasse sowohl auf Hamburger als auch Schleswig-Holsteiner Gebiet das Erdreich untersucht – bei oberflächlichen Ausgrabungen sowie Bohrungen in bis zu sieben Meter Tiefe.

Tunneltal vergleichbar mit der Akropolis und dem Kölner Dom

Die Ausgrabungen sind Teil der Umweltverträglichkeitsstudie des Projekts der Deutschen Bahn und sollen, so S-4-Projektleiter Stephan Albrecht, sicherstellen, dass die neue S-Bahnlinie möglichst wenig schädliche Auswirkungen auf das Gebiet hat, durch das sie verläuft. Es sollen noch Untersuchungen folgen. Es geht unter anderem um potenzielle Auswirkungen auf Tiere, Pflanzen, Gewässer und Luft.

Was den Rentierknochen in Clausens Hand angeht, er wird das Projekt nicht gefährden, auch nicht die anderen Artefakte, die nach Einschätzung der Experten in großer Anzahl unter der Erde schlummern. Albrecht: „Wir haben die Voruntersuchungen so früh angeschoben, dass selbst bei Sensationsfunden Zeit bleibt, sie zu sichern, ohne den Baustart zu verzögern.“

Sensationelles gibt es nach Clausens Urteil im Tunneltal eine ganze Menge: „Das Tunneltal ist in seiner archäologischen Wertigkeit vergleichbar mit der Akropolis oder dem Kölner Dom“, sagt er. Beeindruckende Funde, die auf das Leben der Eiszeitjäger schließen lassen, hat es in dem 541 Hektar großen Gebiet schon in den 1930er-Jahren gegeben.

Geheimnisse der Eiszeitmenschen

Der Hobby-Archäologe Alfred Rust (1900–1983) hatte damals 2000 Rentierknochen und 111 Geweihe bergen können. Clausen: „Lange Zeit hatte man Rust für sein Glück bewundert, ausgerechnet dort gegraben zu haben.“ Heute, vor allem nach der archäologischen Voruntersuchung der letzten Monate, weiß Clausen, es „ist fast unmöglich, irgendwo im Tunneltal zu graben und nichts zu finden“. Vor allem Steine, verarbeitet zu Waffen, haben die Forscher in rauen Mengen gefunden.

Und doch ist bisher über das Leben der Eiszeitmenschen im Tunneltal wenig bekannt. Clausen: „Wir wissen, dass es Nomaden waren, die nur zum Jagen den Tieren folgten.“ Es sind zumindest nachgewiesen die ersten Menschen, die ihre Beute mit Pfeil und Bogen erlegten. Etwa 12.000 Jahre alt sind die Pfeile, deren Übereste im Tunneltal gefunden wurden. Ihre Besitzer werden der Ahrensburger Kultur zugeordnet. Ihre Vorfahren, die noch mit Speeren bewaffnet den Tieren auflauerten, wurden von Archäologen zur Hamburger Kultur (vor rund 15.000 Jahren) kategorisiert.

Ob die Jäger in großen Gruppen mit Frauen und Kindern ins Tunneltal kamen, wie lange sie ihre Lager auf dem gefrorenen Boden aufschlugen und wie sie miteinander lebten, dahinter steht laut Clausens Kollegen Matthias Lindemann vom Archäologischen Museum Hamburg (Helms-Museum) „ein großes Fragezeichen“.

Lagerstellen der Eiszeitjäger sind unter Moorschichten erhalten geblieben

Aufschluss könnte ein aktueller Fund liefern. Bei Bohrungen haben die Forscher unter dem Torfboden konservierte Überreste von Lagerstellen gefunden. Clausen: „Diese Lager könnten Quellen für das reale Leben von vor 12.000 Jahren sein.“ Ob die Forscher die Chance bekommen, sie genauer zu untersuchen, das entscheidet am Ende wieder die S 4. Verläuft die geplante Trasse über das Lager, dürfen die Archäologen weiter forschen. Wenn nicht, fehlen Geld und Auftraggeber für eine erneute Ausgrabung. Bis dahin können sich die Archäologen über einen anderen neuen Fund hermachen: eine Art Instrument, mit dem Brummgeräusche erzeugt werden können.

Die Entwurfs- und Genehmigungsplanung für die etwa 36 Kilometer lange Strecke der S 4 läuft nach Angaben der Hamburger Verkehrsbehörde voraussichtlich bis 2021. Die Kosten des Projekts belaufen sich derzeit auf etwas über eine Milliarde Euro.