Die Begeisterung für das weltgrößte Metal-Festival ist ungebrochen. Kurz nach dem Wacken Open Air 2011 glühen wieder die Hotline-Drähte.
Wacken. Nach Wacken ist vor Wacken: Das weltgrößte Metal-Festival in dem beschaulichen Dorf mit knapp 2000 Einwohnern war gerade wenige Stunden vorbei, da glühten beim Vorverkauf für das Wacken Open Air 2012 bereits die Leitungen. Um 00.45 am Montagmorgen - eine dreiviertel Stunde nach Vorverkaufsstart – waren die ersten 10.000 Tickets bereits weg, wie eine Festivalsprecherin sagte. Das erste Kontingent sei besonders beliebt, weil neben den Eintrittskarten auch ein T-Shirt, eine CD und weitere "Goodies“ enthalten seien.
Für das nächste Festival werden wie schon in den Vorjahren 75.000 Tickets offiziell verkauft. Hinzu kommen mehr als 10.000 nicht zahlende Besucher und Teilnehmer wie Crew-Mitglieder, Journalisten oder auch die Menschen aus Wacken und den umliegenden Dörfern, die für einen Tag kostenlos auf das Konzertgelände dürfen. Die Gesamtteilnehmerzahl des Großevents auf den Wiesen des schleswig-holsteinischen Dorfes schätzte die Polizei am Sonntag auf 90.000. Und viele Menschen steuerten das Festival auch ohne Karten an und feierten jenseits der Zäune in Hörweite der Heavy-Metal-Bühnen.
Lesen Sie auch den Abendblatt-Hintergrund von Holger True zum Wacken-Festival:
Sie mögen Heavy Metal nicht? Ihnen ist schleierhaft, warum jedes Jahr 75.000 Menschen nach Wacken fahren? Dann lesen Sie diesen Text. Keine Sorge, mit Musik im engeren Sinne hat der gar nicht so viel zu tun. Aber mit einem ganz besonderen Lebensgefühl. Und das ist unabhängig von der Lautstärke. Na ja, ein wenig jedenfalls, denn ...
Metal ist traditionsbewusst Das nächste große Ding? Ist in der Welt des Heavy Metal bestenfalls drittrangig. Geht es im Popgeschäft vor allem darum, immer neue One-Hit-Wonder an die Spitze der Hitparaden zu hieven, ruht das Metal-Universum zuallererst einmal in sich selbst. Eine Wohltat. Metallica, Slayer, Iron Maiden, Motörhead - alle seit Jahrzehnten im Geschäft. Und immer noch gut. Wenn mal eine Platte nicht so prall gerät, fällt die Kritik vergleichsweise milde aus. Man weiß eben, was man an den großen Alten hat(te). Zwar gibt es immer wieder neue starke Bands, aber jeder auch hinterherhecheln? Eben. In der Ruhe liegt die Kraft.
Metal ist Familiensache Nicht nur, weil Mama und Papa längst den Nachwuchs mit nach Wacken schleppen. Oder weil schon Zweijährige ganz instinktiv zu AC/DCs "Highway To Hell" im Hochstuhl wippen. Nein, Metal-Konzerte sind wie Familientreffen. So wie mindestens jeder Metallica-Auftritt. "We are family", ruft Sänger James Hetfield - und, ja: Es fühlt sich wirklich so an. Weil der Mann, der aus einer kaputten Familie stammt und fast am Alkohol zugrunde gegangen wäre, sich erkennbar nach Nähe sehnt. Weil er trotz seiner Millionen immer noch authentisch ist. Einer, dem man beim Umzug helfen würde, die Waschmaschine in den vierten Stock zu tragen. Wie dem eigenen Bruder eben.
Metal ist uncool Klingt schlecht, ist aber gut. Und wie beim Fußball. Da wird ja auch die Begeisterung für das eigene Team so stolz wie offen präsentiert - und nicht etwa das Trikot des Gegners getragen, weil es cooler aussieht. Während also bei Indierock-Konzerten das ungeschriebene Gesetz gilt, niemals ein Shirt der Band überzustreifen, die auf der Bühne steht, gilt beim Metal das Gegenteil. Wer also die schwedischen Death-Metal-Rabauken Amon Amarth liebt, der zeigt das auch beim Konzert. Und wer seine Liebe besonders nachdrücklich demonstrieren will, lässt sich das Bandlogo tätowieren. Was in Zeiten austauschbarer Oberarm-Tribals und leicht verblichener Arschgeweihe dann doch wieder ziemlich cool ist.
Metal ist für immer "Metal ist ein Lebensstil", sagt Sänger und Gitarrist Rob Zombie. "Man ist kein Fan für eine Woche und dann nicht mehr. Metal-Fans bleiben dem Metal immer treu." Wie sehr, das zeigt der Blick auf jedes x-beliebige Metal-Festival, bei dem die Ü-40-Fraktion sich keineswegs als versprengte Minderheit verschüchtert am Rand sammelt. Im Gegenteil. Da geht es immer noch in die erste Reihe, in den "Mosh-Pit". Gern in der altgedienten, mit Aufnähern übersäten Jeanskutte. Too old to Rock 'n' Roll? Denkste.
Metal ist rebellisch Primitive Musik, reaktionäre Frauenbilder, elende Gewaltverherrlichung: Wer sich als Metal-Fan outet, erregt mindestens Verdacht, eher simpel gestrickt und politisch völlig unkorrekt zu sein. Was bei Bandnamen wie Cannibal Corpse, Hatebreed oder Bloodsoaked vielleicht wirklich naheliegt. Aber: Kann es etwas Schöneres geben? In einer von Sicherheitsdenken und Kompromissen durchdrungenen Welt ist Metal eine der wenigen Gegen-den-Strom-Bastionen, ein Hort des Widerstands gegen den Mainstream. Dass das alles nicht so ernst gemeint ist, muss ja niemand erfahren.
Metal kann jeder Hören sowieso. Aber auch spielen. Okay, nicht Gitarre wie Deep Purples einstiger Gniedelkönig Ritchie Blackmore oder Bass wie Metallicas muskelprotzender Mattenschüttler Rob Trujillo. Aber zumindest für eine Grindcore-Band reicht es bei jedem. Und das ist ja schon mal ein Anfang. Grindcore? Genau: das Metal-Subgenre mit den kürzesten Songs - "You Suffer" von Napalm Death dauert nur eine Sekunde - und dem höchsten Grunzröchel-Anteil. Da die Texte eh niemand versteht, darf einfach unartikuliert ins Mikro gebrüllt werden. Was eine enorm kathartische Wirkung hat. Und deshalb eigentlich von den Krankenkassen bezuschusst werden sollte.
Metal befriedigt Sammler-Instinkte Die Frage sei erlaubt: Kann es etwas Langweiligeres geben, als sich bei iTunes ein paar neue Songs runterzuladen? Songs, die womöglich schon millionenfach runtergeladen und dann nie gehört wurden? Auch Nicht-Metaller müssten zugeben: Wirkliche Zufriedenheit verschafft das nicht. Im Gegensatz zur pulsbeschleunigenden Raritätenjagd im Metal-Labyrinth. Wer die auf 83 Stück limitierte Doppelmaxi "Come Reap" von The Devil's Blood ergattert hat, bleibt einen verregneten Sommer lang gut gelaunt. Und wer das lediglich auf Kassette erhältliche Cruel-Force-Demo sein Eigen nennt, auch. Volksmusik und Metal sind die einzigen Genres, mit denen sich noch Geld verdienen lässt, heißt es in Branchenkreisen. Wenig verwunderlich: Volksmusikfreunde wissen nicht, wie illegale Downloads gehen, Metal-Fans haben kein Interesse an anonymen Datenklumpen, sondern wollen sich etwas Reelles ins Regal stellen. Wenn möglich luxuriös ausgestattete Vinyl-Boxsets. Wie sympathisch.
Metal geht direkt in den Unterleib So, nun wird's ernst. Denn jetzt kommt doch noch die Musik. Klar, am Metal ist vieles toll. Die treuen Fans, die liebevoll verzierten Kutten ... Aber am Ende des Tages braucht es eben Boxentürme, aus denen es mächtig wummert. Es braucht peitschende Gitarrenriffs, die direkt auf den Unterleib zielen, pulsierende Bassläufe, die mehr versprechen, als sie je halten können, und wildes Schlagzeuggeballer, das das Kleinhirn betäubt. Teufelszeug sei das Heavy Metal, behaupten schmallippige Bedenkenträger seit Jahrzehnten. Es sei der Soundtrack zum Sündenfall. Ganz falsch liegen sie damit nicht. Aber gerade das macht ja den Reiz aus. Auch und gerade für die 75 000 Wacken-Fahrer.
Mit Material von dpa