Der Norden Schleswig-Holsteins wählt schwarz, die großen Städte rot - das bevölkerungsreiche Umland der Hansestadt wird immer wichtiger.
Kiel. Für Schleswig-Holstein geht es nach der Wahl am 6. Mai um alles oder nichts: Die nächste Regierung muss entscheiden, ob das hoch verschuldete Land eigenständig bleibt, enger mit Hamburg zusammenarbeitet oder sogar Kurs auf einen Nordstaat nimmt. Entschieden wird die Schicksalswahl stärker denn je im Hamburger Umland, wo die CDU 2009 alle Direktmandate holte. Diesmal könnte die SPD mindestens vier der zwölf Wahlkreise im Schatten Hamburgs gewinnen.
+++Umfrage: Es herrscht Wechselstimmung im Norden+++
+++Landtagswahlen in Schleswig-Holstein+++
An der bundespolitischen Bedeutung der Schleswig-Holstein-Wahl gibt es keinen Zweifel. Eine Woche später wählt Nordrhein-Westfalen, gut ein Jahr danach ganz Deutschland. Die Landtagswahl in Kiel sei sozusagen eine Testwahl für die große Testwahl für die Bundestagswahl, sagt der Kieler Politikwissenschaftler Joachim Krause. Mit einer Kettenreaktion wie 2005 rechnet er allerdings nicht. Nach dem Scheitern der rot-grünen Regierungen in Kiel und dann in Düsseldorf hatte Kanzler Gerhard Schröder (SPD) sich in eine vorgezogene Bundestagswahl geflüchtet.
Derweil wachsen die Zweifel an der landespolitischen Bedeutung der Wahl. Nicht nur Krause erinnert daran, dass immer mehr Entscheidungen in Brüssel oder Berlin getroffen werden, der Spielraum des Kieler Landtags zudem durch den chronischen Geldmangel eingeschränkt wird. Im Landeshaus wird das allseits bestätigt. "Die EU und der Bund bauen ihre Kompetenzen schleichend aus", sagt Landtagsdirektor Utz Schliesky. Aktuelles Beispiel sei die EU-Datenschutz-Verordnung. Der Professor lässt allerdings keine Zweifel daran, dass Schleswig-Holstein beachtliche Gestaltungsmöglichkeiten bleiben.
Das gilt gerade für die nächste Regierung. Sie muss, unabhängig vom Ausgang der Wahl, die strengen Vorgaben der Schuldenbremse erfüllen oder aber in Berlin den Offenbarungseid leisten. Der Fahrplan für Notfusionen überschuldeter Kleinländer, neben Schleswig-Holstein auch Bremen, Berlin und das Saarland, ist längst abgesteckt. Spätestens nach der Bundestagswahl wird die Debatte über Neugliederungen an Fahrt gewinnen, weil Ende des Jahrzehnts alle Formen der Armenhilfe vom Solidarpakt II bis zum Länderfinanzausgleich auslaufen.
Für Schleswig-Holstein stellt sich damit verschärft die Frage, wie Kiel es mit Hamburg hält. Alle Parteien wollen die Zusammenarbeit ausbauen und weitere Einrichtungen zusammenlegen, streiten allerdings darüber, ob ein Nordstaat Sinn macht. Am weitesten sind die Grünen. Sie wollen ihre Mitglieder zu einer Fusion mit Hamburg befragen. Die schärfste Kritik kommt vom SSW. Die Partei der dänischen Minderheit fürchtet, dass die Bedeutung des Landesteils Schleswig und wohl auch der eigene Einfluss in einem Nordstaat schwinden würden. Insofern stünden einer Dänen-Ampel, die nach Umfragen möglich ist, heiße Debatten über Hamburg ins Haus.
"In Kiel wird entschieden, wie Schleswig-Holstein und Hamburg zusammenwachsen", bilanziert SPD-Fraktionsvize Peter Eichstädt. Wie Innenminister Klaus Schlie (CDU) erinnert er in dem Gespräch mit dem Abendblatt daran, dass Kiel zwar für einige Menschen im Hamburger Umland weit weg scheint, die Landespolitik aber in vielen Bereichen das tägliche Leben mitbestimmt. Am deutlichsten wird das in der Schulpolitik. Mit der Wahl klärt sich, ob Schleswig-Holstein in Richtung Einheitsschule geht, was aus den Regionalschulen wird oder wie es mit den G9-Gymnasien etwa in Norderstedt, Quickborn oder Barmstedt weitergeht.
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Auch in anderen Bereichen wird der Einfluss der Landespolitik oft unterschätzt. Kiel stellt die Weichen für den Pendlerverkehr, etwa den Bau der S 4 von Hamburg über Ahrensburg bis Bad Oldesloe, oder für eine moderne Verwaltungsstruktur in Schleswig-Holstein, das mit vier kreisfreien Städten, elf Landkreisen und mehr als 1000 selbstständigen Gemeinden sehr kleinteilig aufgestellt ist. Das Land steckt den Rahmen für die Arbeit der Polizei ab, kann über die Landesplanung neue Möbelhäuser oder Windparks befördern oder verhindern, von der Kita über die Hochschulen bis zur Kultur mitentscheiden, letztlich von der Geburt (Kinderschutzgesetz) bis zum Tod (Bestattungsgesetz).
Auf die Entscheidung, wer in Kiel regiert, haben die Menschen in den vier Umlandkreisen Pinneberg, Segeberg, Stormarn und Herzogtum Lauenburg einen immer größeren Einfluss. "Die Landtagswahl wird stärker als jemals zuvor im Hamburger Umland entschieden", bestätigt Professor Krause. Ein Grund ist das Bevölkerungswachstum im Dunstkreis der Metropole. Vor 15 Jahren lebten im Umland 900 000 Menschen, heute sind es knapp eine Million. In den Umlandwahlkreisen dürfen nach den Zahlen der Landeswahlleiterin diesmal mehr als 769 000 Bürger ihre Kreuze machen, ein neuer Rekord. Mehr als jeder dritte Schleswig-Holsteiner (34,3 Prozent) wählt im Hamburger Umland.
Die Parteien haben ihren Schwerpunkt im Wahlkampf aus einem weiteren Grund in den Speckgürtel gelegt. Ob CDU oder SPD in einem Wahlkreis vorn liegen, steht im Umland nicht von vornherein fest. In großen Teilen des restlichen Schleswig-Holsteins ist das anders. Die Städte Kiel und Lübeck sind so rot, dass die SPD dort selbst bei Kastrophenergebnissen noch vor der CDU liegt. Die ländlichen Regionen im Norden und Westen des Landes sind dagegen so schwarz, dass die CDU dort im Normalfall komplett abräumt.
Der Status des Umlands als "battleground" (Schlachtfeld) erklärt auch, warum sich prominente Bundespolitiker von Angela Merkel (CDU) über Guido Westerwelle (FDP) und Sigmar Gabriel (SPD) bis Jürgen Trittin (Grüne) zwischen Elmshorn und Lauenburg die Klinke in die Hand geben. Klar ist, dass die SPD im Kampf ums Umland einen Vorteil hat. Sie kann im Wahlkampf auf Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) setzen, der über die Grenzen der Metropole hinaus populär ist. Bei der CDU schlägt dagegen der Wechsel des Spitzenkandidaten ins Kontor. Statt des früheren Vormanns Christian von Boetticher, der in Pinneberg lebt und sich in Hamburg fast besser auskennt als in Schleswig-Holstein, muss nun mit Jost de Jager ein Politiker in Südholstein Stimmen sammeln, der im Landesteil Schleswig verwurzelt ist.
Im Landeshaus wird bereits eifrig gerechnet, wer im Umland welchen der zwölf Wahlkreise gewinnen könnte. Ausgangspunkt ist die Wahl 2009, als die CDU auf Landesebene deutlich vor der SPD lag (31,5 zu 25,4 Prozent). Nach Berechnungen aus beiden Parteien dürften bei dem erwarteten Kopf-an-Kopf-Rennen auf Landesebene mindestens vier Wahlkreise im Umland an die SPD gehen. Ganz oben auf der Liste steht dabei Elmshorn (Wahlkreis 22), wo die CDU 2009 nur 1971 Erststimmen vor der SPD lag. Es folgen Pinneberg (WK 25, 2291 Stimmen), Lauenburg-Süd (WK 35, 2721 Stimmen) und Stormarn-Süd (WK 31, 3125 Stimmen).
Diese Rechnung geht für die SPD allerdings nur auf, wenn sie im Landesergebnis dicht bei der CDU liegt. Sollte sie wie in den letzten Umfragen besser abschneiden, könnte in weiteren Wahlkreisen der CDU-Vorsprung dahinschmelzen, etwa in Pinneberg-Elbmarschen (WK 24, 3871 Stimmen), Stormarn-Nord (WK 29, 4241 Stimmen), Lauenburg-Nord (WK 34, 4388 Stimmen) und in Norderstedt (WK 28, 4533 Stimmen). In den teils ländlichen Wahlkreisen lag die CDU 2009 so weit vorn, dass sie wieder triumphieren dürfte. Das gilt für Segeberg-West (WK 26, 5645 Stimmen), Segeberg-Ost (WK 27, 6104 Stimmen), Stormarn-Mitte (WK 30, 6199 Stimmen) und erst recht für die CDU-Hochburg Pinneberg-Nord (WK 23, 7880 Stimmen).
Eng könnte es demnach auch für zwei Kabinettsmitglieder werden, Finanzminister Rainer Wiegard (WK 29) und Innenminister Klaus Schlie (WK 34). Welchen Anteil ein Direktkandidat am Ergebnis hat, ist unklar. Im Landeshaus wird der Promi-Bonus auf fünf Prozentpunkte beziffert - höchstens.