Wedel. Familie Zhuravlev gelang die Flucht aus der Kriegshölle nach Wedel. Ihr ehemaliger Wohnort gleicht nur noch einer Geisterstadt.
Zwei Zahlen verdeutlichen die verheerenden Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Stadt Mariupol im Osten der Ukraine. Einst wies die Metropole am Asowschen Meer in der Region Donezk gut 440.000 Einwohner auf. Aktuell sollen noch geschätzt ein paar Tausend Menschen in der komplett ausgebombten Geisterstadt, aktuell von Russland völkerrechtswidrig annektiert, leben.
Auch die beiden Familien Zhuravlev und Sapon wollten vor einem Jahr nur noch eines: Raus aus dieser menschgemachten Hölle. Einer von russischen Soldaten eingekesselten Stadt, in der es nichts mehr gab: kein Essen, keinen Strom, kein Wasser, keine Hoffnung – nur Bombenhagel, Leid, Tod, Leichen und Terror.
Ukraine-Krieg – Flucht nach Wedel: „Wir sind froh, noch am Leben zu sein“
„Auch wir waren geschockt, weil wir so einen Krieg niemals für möglich gehalten hatten und hatten eine unfassbare Angst, weil wir uns in einer schrecklichen Situation befunden haben“, erinnert sich die 34 Jahre alte Alina Sapon.
Es wirkt surreal, wenn die in Sicherheit Geflüchteten nun in einer Küche in Wedel erstaunlich gefasst von ihren schlimmen Erlebnissen berichten. „Es müssen so viele Menschen wie möglich von dem Horror des Krieges in der Ukraine, der Tragödie um Mariupol und den zerstörten Leben seiner Einwohner erfahren“, sagt ihr Vater Mikhail, 61 Jahre alt. Deshalb möchten sie alle ihre Gedanken und Gefühle teilen, auch wenn es schmerzt.
Ukrainische Familie spricht Russisch – das ist in der Ostukraine üblich
Mit am Tisch sitzen seine Frau Irina (54), Tochter Alina und Sohn Vasyl (25). Alina übersetzt aus dem Russischen – im Osten der Ukraine ist dies die vorherrschende Sprache – ins Englische.
Irina Zhuravlev – die als Frau eines Ukrainers in der Heimat durch den zusätzlichen Buchstaben „a“ den offiziellen Nachnamen Zhuravleva trägt – erzählt in ihrer Muttersprache – und sucht dabei oft den direkten Augenkontakt zum Gast. Auch ohne Russischkenntnisse ist der Schmerz deutlich spürbar. Die Sprache des Leids ist auch ohne den Inhalt zu verstehen, problemlos an der Mimik abzulesen.
„Wir hatten die Wahl. Entweder, wir bleiben in Mariupol und sterben, durch die Bomben oder weil wir nichts zu essen haben. Oder wir versuchen, rauszukommen und können auch bei diesem Versuch sterben. Am 15. März des Vorjahres sind wir dann zu sechst im Van los“, erzählt Alina.
Flucht aus Mariupol drei Wochen nach Kriegsbeginn
Gute drei Wochen nach Kriegsbeginn am 24. Februar blieben sie noch in Mariupol. Vermutlich trafen Artilleriegeschütze ihr Wohnhaus. Links und rechts von ihrem Appartement im vierten Stock stürzten die Wohnungen in sich zusammen. Teilweise krachte der Boden vier Stockwerke herunter.
„Es war wie bei einem Erdbeben. Die Kinder haben leise geweint. Mein Papa hat versucht, das Feuer im Haus zu löschen und musste von meiner Mutter zurückgehalten werden, sonst hätten die Dämpfe ihn getötet“, erinnert sich Alina. Teilweise lebten sie aus Sicherheitsgründen während der heftigen Bombardements auch auf der Straße.
Basierend auf Gerüchten fuhr die Familie einfach los
Dann gab es Gerüchte, dass es einen humanitären Korridor geben solle, um Einwohnern die Flucht aus Mariupol zu ermöglichen. Offizielle Infos gab es in Kriegszeiten nie. Entgegen der Absprache gerieten solche Autokonvois auch immer wieder unter russischen Beschuss. Am 15. März 2022 setzte sich die Familie ins Auto – Alinas Freund Jewgeni Griannyi war bereits einige Tage zuvor aus Odessa geflüchtet – und fuhr los in die Ungewissheit. Auch Großmutter Galina Zubakova (85) kam mit.
250 Kilometer waren es bis nach Saporischschja am Fluss Dnepr, das von der Ukraine militärisch gehalten wurde. Es gab auf dem Weg zahlreiche Gefechte, ihr Auto blieb aber wie durch ein Wunder unversehrt. „Für diese Strecke haben wir 23 Stunden gebraucht. Es gab Staus, auch weil zehn Militär-Check-Points auf dem Weg lagen“, erzählt Alina.
Ukraine-Krieg: Fahrer Mikhail lenkte das Auto durch vermintes Gebiet
Und dann hatten ukrainische Soldaten kurz vor der ersehnten Ankunft den einzigen Weg, den es noch in die Stadt hinein gab, aus Sicherheitsgründen vermint. Mikhail war Fahrer – in Todesangst und mit der Verantwortung für fünf weitere Familienmitglieder.
Sie kamen mit viel Glück, das viele andere in diesem Krieg nicht haben und hatten, mit dem Leben davon. „Wir sind einfach froh, dass wir noch am Leben sind und danken Gott für die Möglichkeit, hier in Wedel zu sein“, sagt Alina. Über den Zwischenstopp Polen kam die ukrainische Familie am 20. März 2022 in der Notunterkunft im ehemaligen Krankenhaus an.
Viele Wedeler halfen den Ukrainern nach ihrer Ankunft
Dort trafen sie unter anderem auch auf die ukrainisch-stämmige Wedelerin Irina Byvatov – die inoffizielle gute Seele der ukrainischen Geflüchteten-Hilfe in der Stadt. Aber auch viele weitere Wedeler hätten in diesem einen Jahr geholfen, einen Neustart in einer komplett fremden Umgebung zu ermöglichen. „Wir haben alles verloren. Unser ganzes Leben. Schmuck, Kleidung, Fotos, unsere Wohnung. Einfach alles“, sagt Mutter Irina mit Tränen in den Augen.
Julika Bleil und Nils Asmussen hätten in Wedel zunächst Platz in ihrem Haus für sie geschaffen. Elke und Florian Wulff werden auch als Helfer in der Not genannt. Alexandra Lemke. Auch mit einem Immo, der ihnen gleich am Anfang an einer Autowasch-Anlage in Wedel geholfen hatte, steht die Familie immer noch regelmäßig in Kontakt. Diese Liste ließe sich noch erweitern.
Familie Zhuravlev ist dankbar wegen der „großartigen Unterstützung“
„Wir sind wirklich überglücklich über die großartige Unterstützung, die wir hier von allen erhalten haben. Jeder hat seinen Teil beigetragen und uns beschenkt oder seine Hilfe angeboten“, sagen die Neu-Wedeler voller aufrichtiger Dankbarkeit.
Eine leere Wohnung in Nähe des Steinbergs ist durch Spenden zu einer sehr gemütlichen Bleibe geworden. Auf allen Möbelstücken und Gegenständen kleben Post-its mit den deutschen Begriffen. Das Erlernen der Sprache sei nun einmal das A und O, um sich in einer fremden Welt zurechtzufinden, da sind sich alle gleichermaßen einig.
Deutsch sei kompliziert zu erlernen, „aber unsere Sprache ist auch nicht leicht“, sagt Alina, die mittlerweile an der Grundschule Moorweg in Wedel sich um derzeit mehr als zehn Kinder aus ihrer Heimat kümmert, um deren Integration ein kleines Stück zu erleichtern. Ihre Söhne Mark und Kirill gehen dort ebenfalls in die 1. und 3. Klasse. Alinas Eltern haben mit der Großmutter auch eine Wohnung in Wedel gefunden.
Leider ging es auch in der neuen Heimat mit den Schicksalsschlägen weiter. Großmutter Galina erkrankte an Krebs und musste im Krankenhaus in Elmshorn operiert werden „Die Ärzte sagen, es kann auch durch den Kriegsstress ausgelöst worden sein. Wir haben uns die letzten Monate sehr intensiv um sie gekümmert. Aber nun geht es ihr allmählich besser“, sagt ihr Schwiegersohn Mikhail.
Sohn Vasyl war in Thailand und ist erst seit einem Monat in Wedel
Gute Neuigkeiten gab es zuletzt aber auch. Sohn Vasyl kam vor einem guten Monat in Wedel an. Als der Krieg begann, war er beruflich in Thailand unterwegs. Er ist im IT-Bereich tätig. „Das war auch für mich eine wahnsinnig schlimme Zeit damals, weil der Kontakt zu meiner Familie in Mariupol zwischenzeitlich zusammengebrochen war. Ich wusste einfach überhaupt nicht, wie es ihnen ging oder wo sie sind“, sagt er.
Der Neu-Wedeler reiste nun direkt nach Deutschland und registrierte sich als Geflüchteter in Boostedt. „Ich bin einfach nur glücklich, wieder mit meiner Familie zusammensein zu können. Nun möchte ich die Sprache lernen und möglichst schnell eine Arbeit finden“, blickt Vasyl hoffnungsvoll in die Zukunft.
„Einige Russen in Wedel sind auch gegen diesen Krieg“
Ob sie den Russen jemals verzeihen können für das, was sie ihrem Land und ihrer Stadt angetan haben? „Das werde ich von meinen Arbeitskollegen auch gefragt. In Wedel gibt es schließlich auch viele Russen. Sie fragen mich, ob ich mit ihnen überhaupt reden kann. Im Grunde genommen ist es einfach nicht unser Krieg. Wir oder auch sie sind nicht dafür verantwortlich, was passiert“, sagt Alina Sapon, die in der Ukraine beruflich als Englisch-Übersetzerin gearbeitet hatte, aber auch Kindermode entwarf. Einige Russen, „die ich treffe, sind ebenfalls gegen diesen Krieg. Und diejenigen, die dafür sind, glauben der russischen Propaganda“.
Eine Rückkehr ist auf lange Sicht nicht möglich. Ihr Zuhause gebe es nun einmal einfach nicht mehr. Andere Regionen der Ukraine seien ebenfalls keine Option. Die Blicke wirken in solchen Momenten komplett leer – und tieftraurig. Das berufliche Glück, eine kleine Bierbrauerei namens „Beermania“ mit eigenen Bars in Mariupol – ist ausgelöscht. Vergangenheit.
Verblassende Erinnerungen an eine glücklichere, unbeschwerte Zeit. Auf dem Handy werden nun Fotos und Videos gezeigt – von der komplett zerstörten Stadt, auch von getöteten Nachbarn und Freunden. „Das war mein Freund Pavel. Er war Patenonkel von den Jungs. Ich habe ihn 50 Jahre gekannt“, sagt Mikhail,
Gibt es psychologische Hilfe, um das Erlebte zu verarbeiten? „Nein. Momentan nicht. Aber ich glaube, das wäre sehr sinnvoll. Gerade für die Kinder. Das kann ja auch Jahre später wieder hochkommen“, sagt die zweifache Mutter Alina. Irgendwie muss es ja für alle weitergehen, so gut es eben geht. Die Silvesternacht mit den Feuerwerkskörpern sei schlimm gewesen, anfangs habe ihre Mutter auch Angst gehabt – ausgelöst durch Fluglärm.
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Doch der Blick soll nach vorn gehen, alle fühlen sich in ihrer neuen Heimatstadt wohl. „Wir sind glücklich in Wedel und schätzen es wert, hier zu sein. Die Stadt ist klein. Wir sind gern an der Elbe oder im angrenzenden Wald Klövensteen“, sagt Alina Sapon. Auch die Nähe zu einer Großstadt wie Hamburg sei ein Vorteil.
„Wir kommen aus einer Stadt am Meer, deswegen mögen wir auch das Maritime. Zuletzt waren wir an der Ostsee am Timmendorfer Strand spazieren. Die Möwen zu sehen und diesen Geruch vom Meer wieder in der Nase zu haben, tat wirklich gut“, sagt sie. Dies war ein kurzer Moment voll Glück – dem trotz des unendlichen erfahrenen Leids in der Vergangenheit nun in der Zukunft noch viele weitere folgen mögen.