Wedel. Familie Byvatov eint trotz unterschiedlicher Geburtsländer der Wille zur Unterstützung. Wie das geht, zeigen sie mit ihrer Tochter regelmäßig.

Das „schlimmstmögliche“ Geburtstagsgeschenk erhielt Andrey Byvatov (56) am 24. Februar, wie seine Frau Irina (56) formuliert. Russland startete seinen Angriffskrieg in der Ukraine. Die Familie, mit den drei Töchtern Katja (35), Ksenija (28) und Marianna (16) ist zwar in Sicherheit, sie lebt seit 2002 in Deutschland, davon acht Jahre in Hamburg, inzwischen zwölf Jahre in Wedel. Doch betroffen sind Byvatovs trotzdem, selbst wenn sie seit 2014 alle deutsche Staatsbürger sind.

Schnell stand fest: Die Byvatovs wollen ihren Landsleuten im Kreis Pinneberg helfen. Sie übersetzen, erledigen Amtsgänge, helfen ganz konkret den Geflüchteten in der Wedeler Notunterkunft. Denn Hilfe kenne keine Grenzen. Selbst wenn die familieninternen Herkunftsländer miteinander im Krieg liegen. Doch die russisch-ukrainische Liebe sowie der Zusammenhalt sind größer als Machtpolitik. Andrey stammt aus Murom, Russland. Irinas ehemalige Heimat Kropywnyzkyj liegt im ukrainischen Landesinneren, gut 170 Kilometer von der Küstenstadt Odessa entfernt. Kennengelernt haben sie sich einst am Bahnhof Moskau.

In ihrer Kindheit, Jugend und auch im Erwachsenenalter war alles die Sowjetunion. Russlands Diktator Wladimir Putin fantasiert ohne Moral und Skrupel von einer Rückkehr der Vergangenheit und einem großrussischen Reich.

Der Krieg betrifft die eigene Familie in der Heimat

Aber die Byvatovs hoffen auf Frieden. „Ein Krieg ist immer schrecklich, aber ein Krieg gegen die eigene Familie, gegen Freunde, ist am schlimmsten. Man kann sich nicht über das eigene Leben freuen, wenn du genau weißt, die Verwandtschaft deiner Frau lebt unter Raketenbeschuss und ohne Wasser“, sagt der russische Familienvater. Der Onkel von Irina harrt mit seiner Familie in Mykolajiw im Süden der Ukraine am Schwarzen Meer aus. Seit Wochen gibt es kein fließend Wasser.

Die ganze Familie Byvatov spricht fließend Russisch. Auch Tochter Marianna, die in Hamburg geboren ist. Im Süden der Ukraine ist Russisch Hauptsprache. „Russisch und Ukrainisch sind sehr ähnlich vom Wortstamm her. Ich würde sagen, es ist wie mit dem nord- und süddeutschen Dialekt“, sagt Irina Byvatov. Jeder Ukrainer würde auch Russisch verstehen, jedenfalls den Kern der Aussage. Marianna bestätigt das: „Ich habe vorher nie Ukrainisch gehört und trotzdem auf Anhieb alles verstanden.“

So manches Mal stößt die Kommunikation mit Hand und Fuß dennoch an ihre Grenzen. Gerade, wenn es um Behördengänge geht. Dann klingelt das Handy von Irina Byvatov. „Meine Nummer wird von denjenigen, die aus der Notunterkunft in eigene Wohnungen vermittelt wurden, regelmäßig an die Neuankömmlinge weitergegeben“, erzählt sie. Byvatov arbeitet 40 Stunden hauptberuflich in der Produktion des Wedeler Medikamentenherstellers Medac, nebenberuflich hilft sie den ukrainischen Flüchtlingen in Vollzeit.

Byvatov tauscht sich auch mit Stadtvertretern aus

Marta Litke koordiniert bei der Stadt Wedel die Integration. Irina Byvatov hatte auf sozialen Netzwerken Aufrufe gelesen, dass Muttersprachler für Ukrainisch oder Russisch gesucht werden. Seitdem gibt es einen regelmäßigen Informationsaustausch. Innerhalb kürzester Zeit war Mitte März die Notunterkunft im ehemaligen Wedeler Krankenhaus aufgebaut worden. „Ich habe Anfang März bei der Hilfsaktion am Johann-Rist-Gymnasium die Kartons beschriftet“, erzählt Marianna Byvatov, die sich mittlerweile trotz ihrer 16 Jahre mit dem Ausfüllen von Mietverträgen, Kautionen und Amtsvorgängen auskennt.

Alle drei krempelten die Ärmel hoch und packten an. „Im März standen wir einfach drei Tagen hintereinander bei strahlendem Sonnenschein draußen mit den Menschen vor der Notunterkunft und haben uns einfach nur unterhalten. Marianna hat mit den Kindern mit einem Basketball gespielt“, sagt die Mutter.

Die anfängliche – und wegen der Umstände auch nachvollziehbare – Skepsis dem russischstämmigen Vater gegenüber sei schnell verflogen. „Ich habe gesagt, mein Mann ist zwar Russe, aber er möchte euch einfach nur helfen“, sagt sie. Und diese Aufrichtigkeit hätten die Ukrainer auch sofort gespürt.

Die Nächstenliebe geht einher mit der Energie, Menschen in Not zu helfen. Es gehe darum, einfach mal zuzuhören und den Geschichten zu lauschen. Am wichtigsten für die Geflüchteten sei die Kommunikation und das Spenden von Trost. In Schutzkleidung habe sie sogar auch die Corona-Isolationsstation der Notunterkunft besucht und sich die Sorgen und Nöte der Bewohner in der Fremde stundenlang anhört. „Natürlich ist es nicht einfach und belastend, in das Leid einzutauchen“, sagt Irina Byvatov. Aber die Menschen sind einfach dankbar dafür, dass jemand zuhört. Und das ist wichtiger als die eigene Psyche.

Ukrainische Familien sind voneinander getrennt

„Diese Familien sind auseinander gerissen. Alle Männer unter 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen, sondern müssen kämpfen. Das ist unvorstellbar“, sagt die Ehrenamtlerin. Während eine ukrainische Mutter aus der Ukraine mit zwei Töchtern in Sicherheit im Kreis Pinneberg weilt, müssen Vater und Sohn in Tschernihiw nahe Kiew ihr Land verteidigen.

„Als wir hier 2002 in Deutschland ankamen, konnten wir die Sprache nicht, kannten niemanden, wir kannten die Gesetze und die Kultur nicht. Wir haben uns integriert und wollen nun andere dabei unterstützen, dass sie vielleicht einen leichteren Start haben“, sagt die Ukrainerin. Damals wollte sich die Familie wegen der besseren Chancen eine neue Zukunft in Deutschland aufbauen – die Vorfahren waren einst den umgekehrten Weg in den Osten Europas gegangen.

Die Byvatovs – neben Tochter Ksenija wohnt auch Oma Elena (80) im Haushalt – helfen nicht nur den Geflohenen, sondern erleichtern auch den Deutschen ihre Arbeit, wenn diese sprachlich nicht mehr weiter wissen und sich vom Andrang überfordert fühlen. „Ich habe zum Beispiel in einem Handyladen handschriftlich einen Zettel verfasst, damit alle wissen, welche Unterlagen genau benötigt werden. Warum soll ich das denn nicht machen? Das hat vielleicht fünf Minuten gedauert“, erzählt Byvatov. Die Verkäuferin habe sich später noch einmal herzlich dafür bedankt. Auch das Wedeler Rathaus hat Aushänge mit kyrillischer Schrift genutzt.

Der Großteil der Deutschen kann sich einigermaßen auf Englisch verständigen, diese Kenntnisse wiederum sind unter den Geflüchteten nicht immer vorhanden. Über Irina Byvatov sind etwa schon beim Optiker passende Brillen bestellt worden. Oder eine hilflose ältere Dame aus Butscha erhielt Tipps am Bankautomaten. „Die Leute sind einfach unendlich happy, Unterstützung zu bekommen und bedanken sich wirklich tausendmal dafür“, sagt Tochter Marianna. Es gehe um das Lächeln oder auch glückliche Kinderaugen, wenn etwa ein kleiner Junge in den Kleiderspenden eine passende neue Hose oder ein T-Shirt findet. Weil er bisher einfach keine Wechselmöglichkeit hatte – nach der Flucht aus Charkiw. Viele Hilfsaktionen laufen spontan ab – ein Anruf genüge, auch wenn es zeitlich nimmt immer sofort passt.

Fleiß ist bei Tochter Marianna auch im Sport angesagt: Die Familie ist wegen der Tochter dem Wedeler Basketball-Verein SC Rist verbunden und begleitet die Jugendnationalspielerin so oft es geht zu den Spielen. Im Alter von neun Jahren fing Marianna mit diesem Sport an, nachdem sie früh die Puppen beiseite gelegt hatte und sich im Kindergarten von den Jungs als Fußball-Torhüterin die Bälle um die Ohren schießen ließ. Letztendlich wechselte noch einmal das Sportgerät. Irina Byvatovs Vater war auch in der Sowjetunion dem Basketball verbunden und als Trainer aktiv.

Mit gerade einmal 16 Jahren ist die quirlige Aufbauspielerin Marianna Byvatov schon Leistungsträgerin im ersten Damen-Team des SC Rist. Vor sieben Jahren fing sie in Wedel mit Basketball an.
Mit gerade einmal 16 Jahren ist die quirlige Aufbauspielerin Marianna Byvatov schon Leistungsträgerin im ersten Damen-Team des SC Rist. Vor sieben Jahren fing sie in Wedel mit Basketball an.

Basketballerin Marianna steht vor U17-WM-Teilnahme

Nun führt die Tochter diese Familientradition fort. Die Ostertage wurden allerdings erfolglos in Süddeutschland bei zwei Niederlagen verbracht. Noch hoffen alle, dass der SC Rist mit seinem Damenteam als Nachrücker trotzdem in der Liga bleiben kann.

Mit dem jungen Team – im letzten Spiel war nur eine Spielerin älter als 21 Jahre – ist die 1,71 Meter große Aufbauspielerin Byvatov aus der 2. Bundesliga abgestiegen, doch für die Kapitänin der Wedeler U18-Bundesligamannschaft scheint es persönlich sportlich aktuell dennoch optimal zu laufen. Im Mai steht ein Lehrgang von der deutschen U17-Nationalmannschaft an. Byvatov steht wie auch Teamkollegin Paula Huber-Saffer im vorläufigen 20er-Kader für die WM im Juli im ungarischen Debrecen

Einen ersten Nationalmannschaftslehrgang im März hatte sie nach gerade überstandener Corona-Erkrankung noch verpasst. 2023 möchte sie ihr Abitur am Johan-Rist-Gymnasium absolvieren. Dann soll ein Studium der Wirtschaftspsychologie folgen. Mit der bisher an den Tag gelegten Disziplin, der Leidenschaft und dem Ehrgeiz, immer das Bestmögliche auf die Beine stellen zu wollen, sollte es wohl klappen.