Rellingen. Ingrid Holzknecht (78) lag im Koma, erlitt 13 Kochenbrüche. Die Seniorensportlerin lässt sich durch ihren Bergunfall 2016 nicht bremsen
Keine Frage – der größte Fan von Ingrid Holzknecht heißt Hans Holzknecht. Im schmucken Einfamilienhäuschen in der Mitte von Rellingen, nur einen Steinwurf vom Sportzentrum entfernt, sitzen die Eheleute am Esszimmertisch. Und während durch die geöffnete Terrassentür aus dem gepflegten Garten, in dem auch ein kleiner Teich vor sich hin plätschert, das Toben einer vierköpfigen Kohlmeisenfamilie für Geräuschkulisse sorgt, blättert Hans Holzknecht in einem Fotoalbum.
Das dicke Buch mit seinen quadratischen Seiten hat er über Jahre hinweg akribisch und mit sichtbarer Hingabe zu einer Leistungsschau und Andenkensammlung für sich und seine Frau gemacht. Jeden Zeitungsartikel, in dem etwas über Ingrid Holzknecht zu lesen ist, hat er hier fein säuberlich und akkurat eingeklebt. Und derer gibt es viele, sehr viele nach über 60 Jahren Leistungssport der 78-Jährigen.
Nun aber, beim gemeinsamen Blick in die sportliche Vergangenheit der mehrfachen Großmutter rührt sich leise Selbstkritik: „Oh, das ist ein Manko; ich hab nicht überall das Datum dazu geschrieben.“ Doch die hellwachen Augen von Ingrid Holzknecht verraten schnell: Die Leichtathletin aus Leidenschaft kann auch ohne vollständige Notizen ihres Mannes rekonstruieren, welches Ereignis ihrer aktiven Vergangenheit sich wann zutrug. Allen voran der 4. September 2016. Es ist der Tag, der seit nun fast drei Jahren immer noch ihr Leben prägt und auch im Erinnerungsalbum viel Raum auf den aktuelleren Seiten einnimmt.
An diesem Sonntag im September war Ingrid Holzknecht beim Bergwandern in den österreichischen Alpen in der Nähe des Großglockners abgestürzt; wurde erst nach halbtägiger Suche bewusstlos und unterkühlt gefunden (das Abendblatt hat berichtet). Insgesamt 13 Knochenbrüche machten nach dem Erwachen aus dreitägigem Koma eine langwierige Reha notwendig. Mit der Leichtathletin der LG Elmshorn als Musterpatientin. „Das ist halt mein Wille, auf den Sportplatz zurückzukehren“, sagt die Frau, die in ihrer Karriere in der Summe über 300 Landes-, Norddeutsche, Deutsche und Europameisterschaften in 15 Disziplinen eingefahren hat.
So hat sich niemand wirklich gewundert, dass Ingrid Holzknecht, die sich seit der Rekonvaleszenz auf technische Wurf- und Stoßdisziplinen spezialisiert hat („Eigentlich bin ich doch eine Sprinterin.“), schon im Sommer 2017 wieder – erfolgreich – um Meisterehren kämpfte.
Auch jetzt geht es zweimal pro Woche auf den Sportplatz
Seitdem herrscht bei der Rellingerin, die im August ihren 79. Geburtstag feiert, wieder ganz normaler Trainingsalltag. „Zweimal pro Woche geht es für uns auf den Platz in Elmshorn, da kann ich alle meine Disziplinen trainieren“, sagt sie, schiebt aber ein kleines Bekenntnis nach. „Wir sind doch schon eher Schönwettertrainierer. Bei Regen auf dem Platz – das müssen wir uns dann doch nicht antun.“
Sie sagt „Wir“, weil Hans Holzknecht für seine Frau in sportlicher Hinsicht weitaus mehr als nur Archivar und Ergebniswart ist. „Hans ist mein Trainer, mein Ratgeber, er fährt mich zu den Wettkämpfen, er beruhigt mich, wenn es nötig ist“, sagt Ingrid Holzknecht und wirft ihrem Mann einen liebevollen Blick zu. Der ergänzt mit einem Schmunzeln: „Und ich weiß, wann ich still sein muss.“
Wie nun im thüringischen Leinefelde-Worbis. Schon den dritten Sommer seit dem Unfall ist sie – natürlich mit Hans – zur Deutschen Meisterschaft gereist. Die Bilanz aus vier Starts: Gold im Kugelstoßen und Diskuswerfen, Silber mit dem Hammer und Bronze beim Speerwurf. „Und als Ingrid den ersten Diskus ins Netz gesetzt hat, was hätte ich sagen sollen?“, sagt ihr Mann. „Ich habe doch gesehen, dass sie ihr Bestes gibt.“
Und dieses Beste genügte, um alle neun Konkurrentinnen mit den Versuchen drei bis sechs jedesmal zu übertreffen. Mit der in der Altersklasse W75 nur zwei Kilogramm schweren Kugel gab es dagegen gleich mit dem zweiten Versuch die Goldweite von glatt neun Metern. Silber mit dem ungewohnten Hammer wertet Ingrid Holzknecht auch als Erfolg: „Ich hab den dieses Jahr nur zweimal in die Hand genommen. Mein rechtes Knie ist lädiert, wohl auch noch vom Unfall. Deswegen habe ich den Speerwurf auch fast ohne Anlauf bestritt. Da hätte ich gerne mehr als die 19,09 Meter geschafft. Aber Sport ist kein Wunschkonzert.“
Auch nicht am kommenden Sonntag in Medelby im Landes-Wurfmehrkampf, dem am 11. August in Zella-Mehlis die Deutsche Meisterschaft in dieser Disziplin folgen soll. „Und von dort geht’s direkt in unsere geliebten Berge in Österreich, zum Großglockner – mein Unfall ist doch Vergangenheit...“