Rellingen. 77 Jahre alte Leichtathletin aus Rellingen holt DM-Titel. Dabei sind die Folgen ihres Bergunfalls im September 2016 immer noch präsent
Es fällt Ingrid Holzknecht nicht leicht, selbst mit Blick auf die zurückliegenden eineinhalb Jahre, auch das Gute in ihrem jüngsten Auftritt auf nationaler Ebene zu akzeptieren. „Ich weiß doch schließlich, was ich im Training an Weiten schaffe; mit meiner Leistung jetzt bin ich einfach nicht zufrieden“, sagt die selbstkritische Rellingerin. Dabei ist doch die 77 Jahre alte Senioren-Leichtathletin, die für die LG Elmshorn an den Start geht, soeben als zweifache Deutsche Meisterin aus Erfurt heimgekehrt.
Allein für sich gesehen sind die beiden Goldmedaillen, die sie für 19,53 Meter mit dem Diskus und durch die 24,58 Meter mit dem Hammer erhalten hat, schon aller Ehren Wert – aber dann ist da ja noch Ingrid Holzknechts beispiellose Vor- und Leidensgeschichte...
Den 13 Knochenbrüchen folgt monatelange Reha-Arbeit
Rückblende. Am 4. September 2016 lässt sich Ingrid Holzknecht während des Österreich-Urlaubs von ihrem Mann Hans mit dem Auto zum Großglockner-Haus bringen, um dann den auf zwei Stunden angesetzten Marsch talwärts zu beginnen. Sie kommt nie am verabredeten Treffpunkt bei ihrem Mann an. Erst nach einer halbtägigen Suchaktion wird die verunglückte Wanderin bewusstlos, unterkühlt und mit insgesamt 13 verschiedenen Knochenbrüchen gefunden. Fast drei Tage liegt sie im Koma, nach acht Tagen folgt die Überführung ins Bundeswehrkrankenhaus nach Wandsbek.
Der Beginn einer langwierigen Rehazeit, nicht nur in den Praxen von Physiotherapeuten. „In meine rechte Hand, in der noch sechs Schrauben stecken, wieder die nötige Motorik hineinzubekommen, das war sehr mühsam. Dafür hatte mir mein Mann zu Hause einen ,Klammerbaum‘ gebaut. An dem habe ich mit konventionellen Wäscheklammern die feinen Bewegungen wieder neu gelernt“, sagt die 77-Jährige und erinnert sich nur zu gut an den mühsamen Weg zurück in die Normalität. „Ohne meinen Mann, der mich so sehr unterstützt hat, wäre ich jetzt nicht so weit, wie ich jetzt bin.“
Und das sind außergewöhnliche Fortschritte. Nur neun Monate nach dem Unfall mischt Ingrid Holzknecht wieder kräftig mit. Bei den norddeutschen Senioren-Meisterschaften in Celle im Juni 2017 räumt sie ohne größeres Techniktraining („Gymnastik und mein Rehatraining mussten da reichen.“) die Titel im Kugelstoßen sowie beim Speer- und Diskuswurf ab. Nur zwei Wochen später bei den nationalen Titelkämpfen in Zittau das gleiche Bild. Dreimal Gold für Holzknecht.
„Aber nur noch in den Technikdisziplinen, dabei bin ich doch eigentlich eine Sprinterin“, sagt die unermüdliche Leichtathletin. „Aber das mit den Sprints lasse ich künftig lieber. Die Ärzte haben nach dem Unfall bei mir auch ein Aneurysma an der Aorta festgestellt. Nicht groß, und es wächst auch seitdem praktisch gar nicht – aber sicher ist sicher. Da folge ich doch lieber der Empfehlung der Ärzte und lasse die kurzen Spitzenbelastungen bleiben.“
Für genug Erfolgserlebnisse in ihrem weiteren, nun schon über 60 Jahre währenden Sportlerleben reicht es auch so locker. Wie nun in Erfurt. Im Steigerwaldstadion lässt sie mit Diskus und Hammer ihre Konkurrenz jeweils um rund zwei Meter hinter sich. „Aber die Kugel, diese Weite von 7,88 Metern und Platz vier, das ärgert mich schon.“
So viel Selbstkritik. Dabei haben sie diesmal sogar zwei außergewöhnliche Umstände beeinträchtigt: „Wegen der Schrauben in meiner Hand und der geänderten Position der Kugel darin, habe ich die Sondergenehmigung, meine Finger zu tapen. Aber so wie früher ist das Gefühl einfach noch nicht wieder.“
Doch in Erfurt fühlte sich Ingrid Holzknecht durch ein weiteres Problem ausgebremst: „Es ging mir schon auf der Hinfahrt nicht gut, da war ein Infekt im Anzug. Der hat mich auch in den Wettkämpfen geschwächt. Das ist ärgerlich, wenn du im Mercure Hotel in der schönen Altstadt von Erfurt ein Zimmer hast und nach deiner Ankunft sofort ins Bett gehst, anstatt zu bummeln“, sagte die sechsmalige Weltmeisterin. „Und nach meiner Rückkehr hab ich dann beim Arzt hören müssen, dass es wohl eine leichte Lungenentzündung sei.“
Eine Diagnose mit Konsequenzen, nicht nur für den Moment: „Das soll mir eine Lehre sein. Ich habe wirklich genug erlebt; ich will ab jetzt nur noch starten, wenn ich auch meine Leistung bringen kann. Deswegen habe ich auch meine Teilnahme an der EM in Madrid abgesagt, die am 19. März beginnt.“
So bleiben als große Ziele in diesem Jahr im Juli die deutschen Meisterschaften in Mönchengladbach und die WM im August in Malaga. In dem Monat – dem wohl heißesten in Südspanien – wird Ingrid Holzknecht 78 Jahre alt; die Teilnahme wäre also ein schönes Geburtstagsgeschenk an sich selbst. „Aber ich habe meine Lektion gelernt. Ich fahre nur nach Malaga, wenn ich mich gesund fühle...“