Rellingen. Leichtathletin Ingrid Holzknecht (76) kämpft mit den Folgen eines Bergunfalls im vergangenen September. Drei Tage lang lag sie im Koma
„Unsere Ingrid ist eine Kämpferin. Die schafft das. Ihr werdet sehen, bei den deutschen Senioren-Meisterschaften im Sommer ist die wieder im Stadion.“
Diese Mut machende Zuversicht verbreitet sich schnell, als im letzten September die Nachricht von Ingrid Holzknechts schrecklichem Absturz in den Alpen auch die Leichtathleten aufschreckt. Und nicht nur bei der LG Elmshorn, der sportlichen Heimat der 76-jährigen Spitzensportlerin – in ganz Deutschland, sogar rund um den Globus. Denn in der ehrgeizigen und hoch motivierten, internationalen Szene der Leichtathletik-Senioren ist Ingrid Holzknecht bekannt, beliebt und anerkannt. Da ist die Mutter und Großmutter aus Rellingen ein Star – seit Jahrzehnten.
Allein bei der EM 2015 im polnischen Torun hat die Aktive in 15 Disziplinen drei Gold-, zwei Silber- und eine Bronzemedaille gewonnen. Von den Deutschen Meisterschaften im gleichen Jahr hat Ingrid Holzknecht zehn Titel nach Hause gebracht. Bei vier ihrer Siege hat sie zudem deutsche Rekorde in ihrer Altersklasse der 75-Jährigen und älter aufgestellt. „Das hat es noch nie vorher gegeben“, sagt Hans Holzknecht, seit 50 Jahren ihr Ehemann, ebenfalls Leichtathlet über Jahrzehnte, aber seit seiner zweiten Hüftoperation nur noch ihr Trainer und ihre Stütze im Leben.
„Ich wünsche uns ein Wiedersehen bei der nächsten WM“, hat Glory Barnabas, seit mehr als 30 Jahren Gegnerin und Freundin aus Singapur, geschrieben. „Ich will ja auch, unbedingt“, sagt Ingrid Holzknecht. Sie sitzt mit ihrem Mann am Küchentisch im Backsteinhaus in Rellingen. Gemütlich, liebevoll haben die beiden sich das hergerichtet. Der Keller ist nicht nur mit Fitnessgeräten, sondern vor allem mit Medaillen, Urkunden und Fotos von den stolzesten Erfolgen aus 60 Jahren Leichtathletik ausstaffiert und dekoriert.
„Mein Kopf sagt mir ja auch, bei der DM der Werfer im August bist du wieder dabei“, blickt Ingrid Holzknecht nach vorne. Ihre Stimme klingt kraftvoll und zuversichtlich. Dann kommt wie ein Stoßseufzer leise das „Aber“. Ihr Mann schaut sie an; sie schaut zu ihm hoch. Beide sind wieder bei diesem Sonntag, dem 4. September, oben am Großglockner in Kärnten, an dem das Unglück ihr Leben verändert.
Seit vielen Jahren genießen Ingrid und Hans Holzknecht ihre Urlaube in Heiligenblut. Die Sonne scheint, als Hans seine Ingrid mit dem Auto zum Großglockner-Haus bringt. Sie beginnt dort ihre Wanderung ins Tal, auf die er seit der zweiten Hüft-OP verzichten muss. Zwei Stunden später, so ist abgemacht, würde er sie im Tal abholen.
Aber Hans Holzknecht muss warten. Das Warten wird bedrückender und quälender. „Zuerst habe ich unseren Vermieter alarmiert“, sagt er. „Nach drei Stunden sind wir zur Polizei“. Ein Gewitter geht nieder; es regnet in Strömen. Stunde über Stunde. Aber von Ingrid Holzknecht kein Lebenszeichen. Ungewissheit und Sorgen dauern Stunden. Dann geht bei der Bergwacht ein ungewöhnlicher Alarm ein.
Ein Italiener ist unterwegs, um Murmeltiere zu fotografieren. Als er im Geröll am Hang gegenüber zu einem weißen Stoffbündel sieht, erkennt er eine Hand, die sich bewegt. Die alarmierte Bergwacht, mit elf Mann im Einsatz, lässt Ingrid Holzknecht, die blutüberströmt und besinnungslos sechs Stunden im Regen gelegen hat, mit dem Hubschrauber auf den Parkplatz vor dem Großglockner-Haus bringen. „Ich durfte nicht zu ihr“, sagt Hans Holzknecht, „ich hatte das Gefühl, die Ärzte waren nicht sicher, ob Ingrid das überlebt. Sie hatte ja nicht nur 13 Brüche; sie war so unterkühlt, dass die Nieren versagten. Das schlimmste für mich aber war, dass jeder zweite Autofahrer, der da vorbei musste, anhielt und Fotos von meiner schwerverletzten Frau machte.“ Noch jetzt, Monate später, kämpft mit den Tränen, als er davon erzählt.
Die Schwerverletzte wird mit dem Hubschrauber in die Klinik nach Salzburg gebracht. Als ihr Mann dort zwei Stunden später mit dem Auto eintrifft, muss der Arzt auf der Intensivstation ihm zeigen: „Das dort ist ihre Frau.“ Der erste Satz, den seine Frau zu ihm sagt, als sie am dritten Tag aus dem Koma erwacht, ist: „Halt mich fest“. In dem Moment, so sagen Ärzte, durchlebe die Patientin noch einmal ihren Absturz. „Ich selbst weiß überhaupt nicht, was passiert ist“, sagt Ingrid Holzknecht.
Nach acht Tagen wird die Schwerverletzte ins Bundeswehrkrankenhaus nach Wandsbek überführt. Und schon da beginnt sie, die Finger ihrer rechten Hand zu trainieren. Denn mehr als fünf gebrochene Rippen sowie je ein zertrümmertes Joch- und Schlüsselbein machen der Weltklasse-Werferin die fünf Schrauben in ihrer rechten Hand bisher die meisten Probleme bei ihrem ersehnten Comeback. Fürs Motoriktraining bastelt ihr Hans Holzknecht mit Wäscheklammern ein Übungsgestell.
Inzwischen aber ist bei den zahlreichen Untersuchungen eine noch stärkere Sorge dazu gekommen – ein Aneurysma an der Hauptschlagader, das vielleicht operiert werden muss. „Aufgeben aber“, sagt Ingrid Holzknecht, die Leichtathletin mit den unzähligen Titeln, „das kommt nicht infrage. Das Wort ignoriere ich.“